Stöckelschuhe machen mich aggressiv. Ich kann sie einfach nicht leiden. Aber warum eigentlich? Sie tun mir doch nichts. Genau genommen geht mich das rein gar nichts an, wer warum Stöckelschuhe trägt. Gehen wir der Sache also mal auf den Grund.
Ungetragene Stöckelschuhe machen mich nicht aggressiv, so viel kann ich schon mal sagen. Wenn ich sie im Schaufenster sehe, tut und regt sich nichts in mir, kein kleines Gefühl, weder negativ noch positiv. Bin ich vielleicht neidisch, dass ich die Fähigkeit nicht besitze, auf so hohen dünnen Stelzen daherzustolzieren? Wäre ich auch gern so eine Frau durch und durch? Eigentlich nicht. Höchstens a la Freud ganz ganz tief in meinem Unterbewusstsein, wo ich ohne die Hilfe von Freud allerdings nicht allein hinfinde. Aber lassen wir das lieber, wer weiß, was sich da neben Stöckelschuh-Neid sonst noch alles findet. Also, was ist es dann?
Ich kriege regelmäßig immer dann einen nervösen Ausschlag, wenn ich hinter mir Stöckelschuhe höre. Aha, da kommen wir der Sache doch schon näher. Ich vermute, es handelt sich um einen Urinstinkt. Womöglich wittere ich Gefahr aus dem Hinterhalt. Spielen wir das mal durch: Eine Frau vermutet in meiner Umhängetasche einen Goldbarren oder meint, in mir ihre Rivalin, die Ehefrau ihres Chefs, zu erkennen, reißt sich den Schuh vom Fuß und rammt ihn mir gewaltsam von hinten durch die Brust! Nein, ehrlich gesagt, diese Vorstellung lässt mich auch recht kalt. Das scheint nicht die Angst zu sein, die hinter meiner Stöckelschuh-Aversion steckt.
Aber – es wird noch mal deutlicher – beim Klang eines solchen besagten Schuhs gerate ich in eine Art Alarmbereitschaft. Und nun tun sich auch die passenden Bilder, Gefühle und Gedanken auf. Ich gerate nicht in die Bereitschaft, mich einer mit einem Stöckelschuh bewaffneten Frau zur Wehr zu setzen, sondern eben dieselbe zu retten. Aber vor was und warum? Die Antwort erscheint mir jetzt plausibel. Sie kann nicht wegrennen! Wenn, was auch immer, passiert: Ein Feuer ausbricht. Eine Büffelherde angerannt kommt. Sich die Erde unter ihr spaltet. Diese stöckelschuhtragende Frau ist eindeutig in erhöhter Gefahr. Auch macht es mich noch unruhiger, wird mir jetzt klar, wenn ich nicht nur das Stöckeln höre, sondern auch ein ausrutschendes Zaratsch, das noch mal mehr anzeigt, dass die Frau, wenn sie schon nicht richtig auf diesen Schuhen gehen, schon gar nicht laufen, schon gar nicht um ihr Leben rennen kann. Das Gefühl, wenn ich es unter dieser Vorstellung noch mal in Zeitlupentempo durchlaufe, ist eine Abfolge verschiedener Regungen. Es beginnt mit Unruhe, Nervosität, die in eine Kampfbereitschaft – im verteidigenden Sinne – mündet und schließlich in Aggressivität bzw. Wut, dass sich diese Frauen selbstverschuldet in Gefahr bringen und mich in erhöhte Verantwortung versetzen. Unverschämtheit! Und so unnötig! Dabei ist natürlich nicht erwiesen, dass sie tatsächlich nicht schnell damit rennen können. Besonders in Russland war ich immer wieder erstaunt, wie wendig und behände die Damen in ihren hohen Schuhen über den vereisten, glatten, unebenen oder geröllhaltigen Untergrund gehuscht sind. Den Vogel abgeschossen hat eine Bekannte, die in solchen Schuhen mir nichts dir nichts über einen Wall aus Eisklumpen geflitzt ist. Da kam ich in meinen breiten Tretern nicht hinterher! Aber gegen Urinstinkte kann man nichts machen. Stöckelschuhe werden mir immer den Adrenalinspiegel hochjagen, ob Gefahr droht oder nicht.
Julia Siebert
22/05/09