Vladimir Andrienko ist nicht nur ein Ausnahmetalent, sondern auch eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Comedy-Landschaft: Ein Deutscher mit einem russischen Vornamen und einem ukrainischen Nachnamen. Geboren und aufgewachsen im ehemaligen Gebiet Zelinograd in Kasachstan, in einem kleinen Dorf namens Isobilny, zog es Vladimir mit 17 Jahren nach Astana. Dort studierte er an der Historischen Fakultät der Eurasischen Nationalen Universität. Mittlerweile sind sowohl die Universität als auch die Hauptstadt selbst umbenannt worden. Mit „Volk auf dem Weg“ sprach Vladimir über seinen Werdegang im Bereich Comedy, über Vielfalt und Identität sowie kulturelle Besonderheiten. Wir übernehmen das Interview mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Wie haben Sie Ihren Weg auf die Bühne gefunden?

Ich habe drei große Leidenschaften: Jugendarbeit, Sport und Comedy. Was meinen Werdegang im Bereich Comedy betrifft – es hat irgendwann seinen Lauf genommen. Ich bin in einem kleinen Dorf in Kasachstan aufgewachsen, und wie es wohl in jedem kleinen Dorf ist, fand die meiste Action in der Schule statt. Und wir hatten wirklich ein sehr buntes Schulleben. Unsere Lehrer waren engagiert und haben sich ständig irgendetwas einfallen lassen, um uns zu unterhalten. Aber wir Schüler waren auch sehr gut selbstorganisiert. Es gab dauernd irgendwelche Aktionen oder Veranstaltungen, bei denen man sein Talent präsentieren konnte. Mit 14-15 Jahren haben wir mit meinen Klassenkameraden lustige Sketches aufgeführt. Wir haben die Stücke damals nicht selbst geschrieben, sondern einfach lustige Situationen nachgestellt, die wir im Fernsehen oder bei den älteren Schülern in den Vorjahren gesehen haben. Später begann ich KWN zu spielen, eine Art russisches Comedy Battle zwischen Mannschaften. In der Uni hatte ich einen Kumpel mit einem sehr auffallenden Äußeren: Rote Haare, abstehende Ohren – sagen wir mal, er sah ziemlich lustig aus. Eines Tages kamen die älteren Studenten zu uns in den Raum und fragten ihn, ob er in ihrer KWN-Mannschaft mitspielen möchte. Ich wollte auch dabei sein und traute mich zu fragen, ob ich mitmachen darf. Mein Kumpel spielte ein einziges Mal mit, und ich bin fast zwanzig Jahre lang bei KWN geblieben. In Deutschland folgte erstmal eine dreijährige Pause. In den nachfolgenden Jahren habe ich sehr viel im Bereich Comedy gemacht. In unterschiedlichen Mannschaften gespielt, sogar zwei Jahre lang in Düsseldorf eine große Comedy Show mitproduziert und organisiert.

Im Jahr 2014 kam der Moment, als ich mich gefragt habe, wie es wohl ist, wenn man Solo auf der Bühne steht. Bis dahin habe ich immer in Mannschaften gespielt. Ich habe diesen Wunsch entwickelt, mich in der deutschen Comedy-Landschaft auszuprobieren – eine Herausforderung an mich selbst. Dieser Leidenschaft bin ich parallel zur Arbeit nachgegangen. Irgendwann bekam ich immer mehr Möglichkeiten vor deutschsprachigem Publikum aufzutreten. Es folgten zahlreiche Auftritte und Teilnahme an unterschiedlichen Shows.

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Bei Ihren Auftritten erzählen Sie oft lustige Anekdoten aus Ihrer eigenen Integrationsgeschichte. Das sorgt beim Publikum für einige Lacher, doch wie war der Neuanfang in Deutschland wirklich?

Weniger lustig. Als ich nach Deutschland kam, war ich bereits 22 Jahre alt. Der Start war sehr schwer, aber ich habe es dennoch geschafft und alle Schwierigkeiten überwunden. Würde mich aber heute jemand fragen, ob ich diesen Weg noch einmal gehen möchte – das würde ich eher bezweifeln. Da gab es so einige Hürden und Herausforderungen auf dieser Reise.

Welche denn?

Zunächst das Sprachproblem. Wir sind damals, wie viele andere, in Friedland gelandet. Ich habe zuvor zwei Jahre lang zusätzlich Deutsch gelernt. Also habe ich mir auch eingebildet, Deutsch zu können. Als ich in Friedland mein erstes Gespräch mit einer Beraterin hatte, verstand ich kein Wort von dem, was die Frau sagte. Zu den Sprachproblemen kam noch dazu, dass mein Diplom nicht anerkannt wurde. Ein typisches Szenario. Nach dem deutschen Gesetz hatte ich nur das Abitur. Es gab damals keine Programme zur Umschulung oder Umorientierung. Mein Diplom, in das ich so viel Zeit und Kraft gesteckt habe und in das auch meine Eltern so viel investiert haben, war hier nicht mehr so viel wert. Der Weg zu meinem Abschluss in Kasachstan war nicht einfach, vor allem, weil ich vom Dorf in die Stadt umziehen und dort auch von irgendetwas leben musste. Parallel zum Studium habe ich an einer Schule unterrichtet. Damals bekam ich ungefähr zehn Euro Stipendium und zehn Euro habe ich zusätzlich in der Schule verdient. Das war nicht viel. Meine Eltern mussten mich mitfinanzieren. Wir haben alle so viel in dieses Studium investiert! Ich hatte Vorstellungen, Visionen, Pläne. Doch mit der Ankunft in Deutschland war auf einmal die Traumblase geplatzt. Ich musste hier komplett neu anfangen.

Aber Sie haben sich bestimmt nicht unterkriegen lassen…

In Deutschland habe ich noch einmal studiert: Soziale Arbeit an der Hochschule Düsseldorf Meinen Bachelor habe ich in der Tasche. Die Jugendarbeit ist mein absolutes Steckenpferd. In diesem Bereich habe ich viele Erfahrungen sammeln können – von Hilfe zur Erziehung bis zum Jugendaustausch. Sozialarbeit habe ich eher weniger gemacht, aber dafür viel direkte und gezielte Jugendarbeit. In diesem Bereich betrachte ich mich als einen Experten und würde behaupten, dass ich da auch die meiste Erfahrung habe.

Sprachschwierigkeiten und fehlende Anerkennung des Abschlusses. Sonst verlief alles reibungslos?

Die Trennung von meinen Freunden, das Ab- und Wegbrechen der sozialen Kontakte bei dem Umzug nach Deutschland waren für mich besonders hart. Im Dorf hatte ich meinen Freundeskreis. Als ich in die Stadt zog, hatte ich plötzlich Tausende neue Bekanntschaften. Man passt sich aber an; wenn man jung ist, kann man es schneller verarbeiten. Wir brauchen alle unsere Zeit, um Menschen näher kennen zu lernen, einschätzen und entscheiden zu können, ob sie in unser Leben passen. Das ist oft ein langer Prozess, bis sich dein Umfeld formt. Und es verändert sich auch ständig.

Dann kommst du nach Deutschland, in ein völlig anderes Land, und hast niemanden um dich herum. Ich musste mir hier wieder alles neu aufbauen. Es war emotional sehr schwer. In den ersten zwei Jahren habe ich kaum Deutsch gesprochen. Ich bin ein Perfektionist, deshalb habe ich immer zu lange überlegt, wie ich was richtig sagen kann. Bis ich soweit war, eine Antwort zu liefern, war die Notwendigkeit, was sagen zu müssen, oft schon hinfällig. Es war sehr schwer für mich. Ich musste mich selbst neu finden. Das hat mich belastet und sich auch auf mein Verhalten sowie soziales Leben ausgewirkt. Eine Zeit lang war es so schwer, dass ich sogar überlegt habe, zurückzugehen.

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Was hat Sie von diesem Schritt abgehalten?

Als ich zu Beginn meiner Zeit in Deutschland einen Kurs besuchte, wurden wir dort von einer Frau unterrichtet, die schon länger hier lebte. Sie hat unsere Sorgen verstanden und meinte, dass wir uns drei Jahre Zeit geben sollten. Wenn nach diesen drei Jahren immer noch der Wunsch zu gehen besteht und tatsächlich gar nichts klappt, dann könnte man sich wirklich überlegen, ob man nicht zurück soll.

Und wie war es nach dieser Anpassungsphase?

Es kam tatsächlich so, wie sie es gesagt hat. Ich kam im Jahr 2002 und im Jahr 2005 begann in meinem Leben ein neuer Abschnitt. Neue Prozesse nahmen ihren Anlauf. Ich musste mir viele Gedanken über mich und meine Zukunft machen. Nun war ich in Deutschland. Wie positioniere ich mich? Was will ich erreichen? Wie soll das ablaufen? Nach und nach baute ich auch soziale Kontakte auf. Ich habe Menschen kennengelernt und festgestellt, dass ich nicht der Einzige bin, dem es so geht. Nach und nach zeichnete sich endlich ein Muster in meinem Leben aus.

Als ich im Jahre 2006 nach Kasachstan ging, hörte ich mich plötzlich selbst sagen: „Bei UNS in Deutschland“. Früher sagte ich immer bei meinen Besuchen in Kasachstan „dort in Deutschland“ oder „bei denen in Deutschland“. Diese Entwicklung war ein Zeichen für mich, dass ich mich in Deutschland endlich eingelebt und gefunden habe.

Ein Deutscher mit russischem Vornamen und ukrainischen Nachnamen: Wie kommt diese tolle Kombination zustande?

Mein Großvater väterlicherseits war ein Deutscher. Er wurde Anfang der 30er Jahre geboren und hatte eine schwierige Kindheit und Jugend. Er hat alles durchgemacht: Kollektivierung, Deportation, Nachkriegszeit. Später hat er eine Ukrainerin geheiratet, die auch deportiert worden war. Sie haben sich in Tjumen kennengelernt. Er hatte beschlossen, ihren Namen anzunehmen und hat seine Kinder auch als Russen eingetragen. Sein ganzes Leben lang hat er aber darunter gelitten, dass er ein Deutscher war und hat es anscheinend nicht überwunden. Deshalb wollte er seinen Kindern dieses Schicksal ersparen. Davon hatte ich als Kind keine Ahnung. Mein Großvater starb, als ich drei Jahre alt war.

Meine Großeltern mütterlicherseits haben untereinander auch oft Deutsch gesprochen. Als Kind war mir nicht bewusst, dass es die deutsche Sprache ist. Ich dachte, dass meine Großeltern in einer Art „Sprache der Alten“ reden und dass ich diese Sprache erst sprechen werde, wenn ich selbst alt bin. Erst später habe ich verstanden, dass sie miteinander Deutsch sprachen.

Gab es in deiner Familie noch weitere Besonderheiten?

Es gab so einiges, was ich als Kind nicht verstand und mir auch niemand richtig erklären konnte. Als Antwort bekam ich meistens nur: „So ist es eben bei uns.“ Dass all diese Bräuche und Traditionen aus einer früheren Zeit stammten und von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Meine Großmutter buk ein paar Tage vor Silvester immer einen Streuselkuchen. Früher dachte ich, dass es mit meinem Geburtstag, der kurz vor Weihnachten ist, zusammenhängt. Erst Jahre später erfuhr ich, dass der Kuchen nicht nachträglich für meinen Geburtstag, sondern für das Weihnachtsfest war. Viele Dinge oder bestimmte Eigenschaften wurden in unserer Familie oft auf das Deutschsein zurückgeführt. Deutscher Fleiß, Ordentlichkeit, Pünktlichkeit und der Spruch meines Großvaters „Wenn man sich viel Mühe gibt, kommt immer ein gutes Ergebnis zustande“. Heute verstehe ich das aber nicht als etwas „typisch Deutsches“. Bestimmte Charakterzüge haben für mich nichts mit Nationalität zu tun. Erst in meiner Studienzeit begann ich das als Stereotypen aufzufassen. Denn ich kenne sehr wohl auch Russen und Kasachen, die fleißig, ordentlich und pünktlich sind. Und auch umgekehrt Deutsche, die leider nicht so sind.

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Vor unserer Ausreise nach Deutschland, noch ehe wir den Aufnahmebescheid bekamen, musste jemand aus unserer Familie einen Sprachtest machen. Meine Mutter hatte bis zu ihrem zehnten Lebensjahr sehr gut Deutsch gesprochen, also fiel die Wahl auf sie. Bevor sie zu diesem Test ging, informierte sie sich bei anderen Leuten, die diesen Test bereits gemacht hatten. Sie wollte wissen, was auf sie zukommt. Was die Sprache betrifft, da konnte meine Mutter sich noch verständigen, weil doch etwas aus der Kindheit hängen geblieben war. Aber bei den kulturellen Fragen, da gab es so einige Lücken. So wurde meine Mutter, zum Beispiel, gefragt, was wir sonntags machen. Darauf antwortete sie: „Wir machen Pelmeni.“ Die richtige Antwort wäre aber gewesen: „Wir gehen in die Kirche“. Dass Religion und Glaube ein fester Bestandteil der deutschen Kultur und Identität sind, war uns damals nicht bewusst. Das waren so kleine Feinheiten, die man berücksichtigen musste. Mit den Jahren ist in vielen Familien vieles von der deutschen Kultur und Identität verloren gegangen. Unter anderem bedingt durch das sowjetische System. Aber auch andere Faktoren haben dazu beigetragen, dass Sitten, Bräuche und Traditionen sich verwischen oder vermischen.

In einem Land wie Kasachstan, wo viele unterschiedliche Völker nebeneinander gelebt haben, war das keine Seltenheit.

Heutzutage wird kulturelle und religiöse Vielfalt in der Gesellschaft viel diskutiert. In Kasachstan habe ich weder selbst irgendwelche Anfeindungen gespürt, noch habe ich wahrgenommen, dass jemand wegen seiner Kultur oder Religion diskriminiert oder schlecht gemacht wird. Wahrscheinlich haben diese Erfahrungen dazu beigetragen, dass ich heute so offen mit dieser Frage umgehen kann. Und dafür bin ich sehr dankbar.

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