Mit der Inszenierung des Stückes „Der eigene Herd“ von Andreas Saks gelang dem Deutschen Theater in Temirtau der Durchbruch. Beflügelt von dem Erfolg wollte der junge Regisseur Bulat Atabajew nun noch höher hinaus: Ein Stück über die gesamte Geschichte der Deutschen in Russland und der Sowjetunion sollte her. Nur existierte ein solches noch nicht. Und so schlug die Stunde eines anderen bekannten russlanddeutschen Künstlers.

2 Szene aus der Aufführung „Die Ersten" mit (v.l.n.r.) David Schwarzkopf, Woldemar Bolz, Georg Nonnemacher und Peter Zacharias
Szene aus der Aufführung „Die Ersten“ mit (v.l.n.r.) David Schwarzkopf, Woldemar Bolz, Georg Nonnemacher und Peter Zacharias

Zur Eröffnung der ersten Spielzeit im Dezember 1980 spielte das Deutsche Theater in Temirtau seine erste Premiere – „Die Ersten“, ein Stück des sowjetdeutschen Autors Alexander Reimgen, das das Thema Neulanderschließung behandelte. Das Werk wurde vom Autor auf Bestellung der Hochschulleitung verfasst. Wegen dramaturgischer Unebenheiten erlebte es einige Verwandlungen, bevor es bühnenreif war und als Diplomarbeit des ersten deutschen Studios im Haus der Freundschaft in Moskau vorgeführt wurde. Das Stück, das Spiel der Schauspieler und die Regie erlebten begeisterten Beifall des Publikums und lobende Kritik der Fachleute.

Es vergingen Jahre, bis das Theater sich erneut für ein sowjetdeutsches Stück entschied. Denn das faktische Nichtvorhandensein eines Berufstheaters führte dazu, dass die Schriftsteller, die gerne Theaterstücke schrieben (A. Saks, A. Reimgen, E. Katzenstein, A. Debolski u. a.), sich bisher nur mit kleinformatigen Stücken für die Dorfbühnen befassten. Es bestand die Notwendigkeit, die Deutsch schreibenden Autoren für das Theater zu gewinnen, um in enger Zusammenarbeit mit ihnen moderne Bühnenwerke zu entwickeln.

Der Aufstieg des Bulat Atabajew

Das Warten dauerte an. Inzwischen brachte das Theater A. Pokrowskis „Lustigen Tag“, W. Schukschins Erzählungen „Es lebe das Herz“, Schillers „Kabale und Liebe“, Goldonis „Diener zweier Herren“, Dürrenmatts „Physiker“ und einige Märchen für den kleinen Zuschauer auf die Bretter. Darunter auch unseren berühmten „Gestiefelten Kater“, den sich zwei Generationen unserer Zuschauer ansehen durften. Sowjetdeutsche Stücke wurden mit einem Konzertprogramm (das erste Volksfest) mit Liedern, Volkstänzen und lyrischen Intermezzos ersetzt.

Da vorerst alle bisher eingegangenen sowjetdeutschen Theaterstücke scheiterten, entschied sich das Theater für das bekannte Stück „Der eigene Herd“ von Andreas Saks (das Werk erlebte zwei Premieren am Deutschen Staatstheater Engels – 1932 und 1940) und erreichte damit allerseits hohe Anerkennung. Mit dieser Inszenierung gelang dem Theater der Durchbruch und dadurch stieg das Interesse der Autoren am Zusammenwirken mit dem Theater. Der junge Regisseur Bulat Atabajew, der diese Aufführung initiierte, hat es geschafft, aus dem veralteten Bühnenstoff mit dutzenden dramaturgischen Schwächen ein Bühnenwerk zu konstruieren, das mehrere Jahre den Spielplan des Theaters schmückte.

Ein Erfolg im Theaterleben Kasachstans

Herbert Christel, Verdienter Schauspieler der Kasachischen SSR, tätig am Gebietstheater Petropawlowsk, beschrieb seine Begegnung mit dem Deutschen Theater, das sich 1987 mit diesem Stück am Theaterfestival in seiner Heimatstadt beteiligte: „Das Theater hat dieses Stück mit sauberen Händen in Szene gesetzt. Keine einzige der moralischen Kategorien, die das Stück beinhaltet, rufen Zweifel oder gar ein Protestgefühl hervor. Die Aufführung besticht durch die hohe Bühnenkultur der Schauspieler und der Regie. Ich teile die Meinung der Jury des Festivals, dass die Aufführung ‚Der eigene Herd‘ die Leistung eines schöpferisch und staatsbürgerlich ausgereiften Theaters ist.“

Das Stück war ein Erfolg im Theaterleben Kasachstans. Laut einstimmiger Meinung der Jury in Petropawlowsk gelang es bislang keinem nationalen Theaterensemble in Kasachstan, auf solche Art und Weise eine Geschichte aus dem Leben seines Volkes zu vermitteln.

Harter Kampf mit den Behörden

Das Theater mit Atabajew an der Spitze stellte sich einer neuen Aufgabe, die diesmal noch schwieriger war: der vom ersten Erfolg beflügelte Regisseur wollte ein Stück über die gesamte Geschichte des deutschen Volkes in Russland und der Sowjetunion inszenieren. Es gab aber ein Problem: solch ein Stück lag noch nicht vor, es sollte erst geschaffen werden. Und es gab einen Autor, der bisher noch keine Stücke für ein professionelles Theater geschrieben hatte: Viktor Heinz, der bekannte russlanddeutsche Prosaiker und Dichter, wagte es, die Pforten des Theaters zu betreten und sich in einer neuen literarischen Gattung zu testen.

Viktor Heinz war jemand, der nicht nur einverstanden war, sich mit den Theaterleuten auseinanderzusetzen. Er traute sich auch zu, ins Theater zu kommen und den ersten Teil seiner Trilogie „Auf den Wogen der Jahrhunderte“ auf den Tisch zu legen. Man schrieb November 1987, die Zeit war alles andere als günstig für ein Thema, dem sich der Autor und das Theater stellten. Der harte Kampf mit den Behörden um die Erlaubnis, das Stück in den Spielplan aufzunehmen, kostete Kraft und Nerven, führte aber zum erwarteten Ergebnis: Die Premiere fand im Dezember 1987 statt.

Wiederherstellung der Gerechtigkeit als humanes Ziel

Was an diesem Abend im Zuschauerraum los war, ist unbeschreiblich. Der Dichter Hermann Arnhold sagte mir nach der Aufführung mit Tränen in den Augen: „Man verlässt den Zuschauerraum mit dem Gefühl stiller Freude und der Zuversichtlichkeit, dass wir, Russlanddeutsche, kein Staub im Wind sind, sondern ehrliche Besitzer eines Lebensstammes, wie alle Völker unseres Landes.“

Im März 1989 spielte das Theater die Premiere von „Menschen und Schicksale“, dem zweiten Teil der Geschichte der Russlanddeutschen von V. Heinz: „Das Ziel, das sich der Autor und der Regisseur setzten, ist sehr human – sie wollen die nationale Gerechtigkeit eines ganzen Volkes wiederherstellen. Die Handlung beginnt an der Front. Die russlanddeutschen Soldaten stehen unter Arrest und niemand erklärt ihnen, was eigentlich der Grund dafür ist. Erst später erzählt man ihnen, dass die Partei es ‚für wichtiger‘ hält, sie alle ins Hinterland zu schicken. Im zweiten Akt sehen wir die Arbeitslager, die unmenschliche Arbeit der Russlanddeutschen, die aber nicht in der Freiheit geschieht, sondern hinter dem Stacheldraht. Hier arbeiten und sterben die Leute, hier bekommen die Frauen Kinder.“ (Zeitung Industrialnaja Karaganda)

Proben in schwierigen Zeiten

Indessen legte Viktor Heinz den dritten Teil der Trilogie „Jahre der Hoffnung“ vor. Auch dieser historische Abschnitt sollte vom Regisseur Bulat Atabajew aufgeführt werden, doch kurz davor wechselte er an das Kasachische Auesow-Theater. Auch mehrere Schauspieler waren bereits ausgewandert. Die Regie führte Dieter Wardetzky, der DDR-Autor für Film, Funk und Schallplatte, der im März 1990 seine Tätigkeit als Intendant am Deutschen Schauspieltheater Kasachstan begann.

Die Proben verliefen in einer sehr schwierigen Zeit für unser Volk: Jelzin sprach sich kategorisch gegen die Wiederherstellung der Wolgadeutschen Autonomie aus und unsere Landsleute packten ohne Bedenken ihre Koffer. Unter den Russlanddeutschen war ein neuer Begriff im Umlauf – die historische Heimat.

Die Premiere fand im späten Herbst 1990 in Alma-Ata statt, wo das Theater seine 10. Spielzeit begonnen hatte. Sie war für alle Anwesenden ein totaler Schock. Auf der Bühne spielte sich im vollen Maße die Tragödie unseres Volkes ab, noch lange hallte im Zuschauerraum der verzweifelte Seelenschrei der in traurigen Gedanken versunkenen Zuschauer nach. Das Theater hielt sich mit dieser Inszenierung mit der Antwort auf die Frage „Was tun?“ Zurück. Es suchte selbst verzweifelt nach Antworten…

Rose Steinmark, Münster

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