Billigunterkünfte sind in Kasachstan noch ein seltenes Phänomen. Wie eine Rentnerin aus ihrer Dreizimmerwohnung eine günstige Übernachtungsgelegenheit für junge Touristen geschaffen hat. Das Hostel-Business in Kasachstan beginnt sich langsam zu entwickeln.

Liebevoll packt Lien Zhuo Törtchen mit Zucker– und Schokoladenguss, Biskuitteig und Nusscremefüllung auf den mit einem Wachstuch bezogenen Tisch der Gemeinschaftsküche des Central Hostel Almaty. Sie gießt schwarzen Tee ein und stellt Milch bereit.
„Raihan! Come, drink tea!“ ruft die Chinesin mit dem langen schwarzem Haar in dem im Hostel üblichen Telegramm-Englisch. Es ist 17 Uhr nachmittags. In drei Stunden wird die 21-jährige Grafikdesign-Studentin von einem Taxi abgeholt, das sie zum Flughafen bringt, um nach Hong Kong zurückzukehren. Das Zuckerwerk hat sie in einer der vielen Konditoreien in Almaty besorgt. Es ist ihr kleines Abschiedsgeschenk für Rainhan, Besitzerin des Central Hostel Almaty.

Sieben Tage hat Lien in Kasachstan verbracht, ist zum Almatiner See gewandert, hat im 270 Kilometer nördlicher gelegenen Nationalpark Altyn Emel’ die singende Düne erklommen und den Stausee Kapschagai bestaunt, und ist von der rauen Schönheit Kasachstans tief beeindruckt.

Der Tourismus in der Republik blüht zögerlich auf. Diejenigen, die sich in das zentralasiatische Land wagen, sind vorwiegend Individualreisende wie Lien Zhou oder Abenteurer wie der 32-jährige Neil Kennedy, Er ist ebefalls Gast im Central Hostel. Auf seinem Motorrad hat er innerhalb von 16 Tagen von Schweden aus halb Osteuropa, Russland und Kasachstan durchfahren.

Was diese Touristen eint, ist das kleine Reisebudget und der freiwillige Verzicht auf Komfort. Wer in der ehemaligen kasachischen Hauptstadt Almaty preiswert unterkommen möchte, für den ist eines der mittlerweile sieben Hostels eine mögliche Alternative. Die Unterkünfte, nach Geschlechtern getrennten Schlafsälen, sind in Kasachstan ein neues Phänomen.

Das Central Hostel Almaty in der Schewtschenko Straße 92 ist das jüngste Mitglied der Hostel-Familie in der südlichen Hauptstadt.

Seit Januar 2014 ist die 60-jährige Raihan Bilyalova im Ruhestand. Bis dahin arbeitete sie als technische Assistentin am Meteorologischen Institut in Almaty. Ihre Kinder sind aus dem Haus, der Ehemann ist verstorben. Raihan graute es vor der Öde des Alterns und dem Alleinsein in ihrer Dreizimmerwohnung. Ihre beiden Töchter hatten eine zündende Idee, um aus der Not eine Tugend zu machen: Ihre Mutter sollte ein Hostel eröffnen. Diese besondere Form des Hotels hatten die jungen Kasachinnen auf ihren Reisen durch die USA und Europa kennengelernt.

Für Raihan Bilyalova folgten Wochen der Recherche. „Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, was ein Hostel überhaupt sein soll.“ schüttelt die zierliche Kasachin lächelnd den Kopf und scheint immer noch überrascht darüber zu sein, dass die Gründung ihres „one-woman“-Unternehmens tatsächlich erfolgreich ist.

Tagelang durchforstete sie das Internet, scrollte diverse Reise-Homepages rauf und runter, verglich Preise und Leistung der Anbieter, betrachtete Fotos von spartanischen Massenunterkünften und las Bewertungen von Gästen anderer Hostels mit Hilfe eines Übersetzerprogrammes. Fazit ihrer virtuellen Recherche in der Welt der Backpacker sah folgendermaßen aus: In St.Petersburg, in Moskau und sogar in Almaty reisen Touristen aus aller Welt an und haben kein Problem damit, in einem Schlafsaal mit bis zu neun anderen Menschen zu übernachten, sich darüber hinaus mit Ihnen Bad und Toilette zu teilen.

Raihan wagte den Sprung ins Unbekannte, jedoch nicht, ohne sich vorher den Segen der Nachbarn einzuholen. Binnen vier Wochen renoviert sie mit Hilfe der gesamten Verwandtschaft ihre Eigentumswohnung im Erdgeschoss eines alten zweistöckigen Häuschens; installierte eine zweite Toilette, strich das heruntergekommene Treppenhaus in lindgrün an und stellte in den beiden Schlafsälen Schließfächer auf. Acht Euro kostet eine Übernachtung – günstiger findet man in Almaty keine Unterkunft. Raihan inserierte im Internet und der erste Gast ließ nicht lange auf sich warten. Im Februar 2014 beherbergte sie sechs Gäste. Seit Juni ist das Hostel es nahezu täglich ausgebucht.

Heute ist Raihan eine Geschäftsfrau und gleichzeitig ihre eigene und einzige Angestellte. Sie steht morgens mit den ersten Gästen auf, putzt die Räumlichkeiten, steht hinter der Rezeption, händigt Stadtpläne und Broschüren der Reiseveranstalter aus, bestellt Taxen und hilft, wo sie kann. Das alles macht sie mit den wenigen Brocken Englisch und viel Zeichensprache.

Die Notfalllösung der Unternehmensgründung hat sich als Offenbarung entpuppt. Raihan blüht in ihrem neuen Beruf auf und ist nach wie vor fasziniert von ihren Gästen. „Die Menschen, die zu mir kommen sind jung. Sie suchen das Neue, das Abenteuer. Sie vernetzen sich auf Facebook, tauschen untereinander Ratschläge aus und sind unglaublich offen. Dass alle so begeistert von meinem Land sind, tut mir gut! Am Anfang verstand ich jedoch nicht, was sie in Kasachstan suchen. Hier gibt es keine tollen Läden oder Strände. Irgendwann wurde mir klar, dass sie das genauso gut zuhause haben können. Sie kommen nach Kasachstan, um die unberührte Natur zu sehen, die Berge, die Wildnis, in die kein Mensch den Fuß hinsetzt. Jetzt denke ich, ich muss auch mal in unsere Berge. Die Begeisterung ist ansteckend!“

Raihan hat in der Gemeinschaftsküche eine Weltkarte aufgehängt. Für jeden Gast wird ein Fähnchen in sein Heimatland gepinnt. Die Karte ist bereits übersäht mit Fähnchen – deutlich dichter in Europa, jedoch finden sich auch welche in Japan, Australien, China und Südafrika. Lediglich Besuch aus Südamerika lässt noch auf sich warten.

Kasachstaner verirren sich übrigens selten zu Raihan. Zwar riefen regelmäßig Interessenten an, um sich zu erkundigen oder zu reservieren, berichtet sie. „Sobald sie jedoch erführen, dass sie kein eigenes Zimmer haben können, sondern sich den Raum mit bis zu vier anderen Personen teilen müssten, sehen sie von einer Buchung ab“, so Bilyalova.

Inspiriert von den jungen Touristen in ihrem Hostel, möchte Raihan selbst bald verreisen. Nächstes Jahr im Mai plant sie ein Schengen-Visum zu beantragen, um ihre Nichte in Schweden zu besuchen und im Anschluss Deutschland zu bereisen. Angst vor Sprachhindernissen hat sie keine mehr. „Manchmal stört es mich, dass ich kaum Englisch kann. Aber es gibt ja Gott sei dank Google. Mangelnde Kenntnisse sind kein Hindernis, wenn man wirklich kommunizieren will.“ resümiert sie schmunzelnd. Übernachten möchte sie auf ihrer Europareise selbstverständlich in einem Hostel. „Denn da kriege ich die besten Tipps von den anderen Reisenden,“ weiß sie mittlerweile.

Von Olga Herschel

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