Zwar ist Kasachstan im 21. Jahrhundert auf dem Weg zu einem technisierten Staat, dennoch sind weite Teile des Landes noch agrarwirtschaftlich geprägt. Selbst in den modernen Städten Kasachstans findet über Feste eine Anknüpfung an traditionelle Zeitmuster statt. Und erst recht in Dörfern wie dem nordkasachischen Kurkeli.
/Bild: Philipp Jäger. ‚Pferde erfordern intensivere Aufmerksamkeit als anderes Vieh. Ohne Fußfesseln legen sie gern weite Entfernungen zurück.’/
Während Atomuhren weltweit im gleichen Takt schlagen, unterscheiden sich gefühlte und gelebte Zeit von Menschen deutlich. Tag und Nacht, kosmische Zeit, moderne Zeiteinheiten gleichen sich zwar überall, aber die interessante Frage lautet: Wie legen Menschen ihren Alltag daran an? Die Zeitpraxis ist von einzelnen Ethnien ihren Bedürfnissen entsprechend gestaltet und findet ihren Widerhall in der Mentalität und den Auffassungen der Menschen.
Der komplexe Aufbau der Zeit in der traditionellen kasachischen Kultur ist einer Betrachtung wert. Daran, wie die Zeit bei den Kasachen gestaltet ist, lassen sich kulturelle Wertigkeiten ablesen. Zur Veranschaulichung kultureller Zeitlichkeiten sollen Beispiele aus dem kasachischen Aul (Dorf) Kurkeli im Pawlodarer Gebiet aus dem Sommer 2008 genutzt werden.
Die Zeitpraxis der ca. 600 Menschen großen Gemeinde orientiert sich weitestgehend an Bedürfnissen ihrer Bewohner. Da fast alle entweder Landwirtschaft auf der Sary Arka in Form von Tierzucht betreiben, oder zumindest Vieh zur Subsistenzwirtschaft halten, erfordern Tätigkeiten wie Weidegang, Milchgewinnung und –verarbeitung und Schlachten die Aufmerksamkeit der Bewohner.
In meiner Gastfamilie, in der der Ehemann der jungen Familie auf einem außerhalb der Siedlung liegenden Hof arbeitete, kümmerte sich die Ehefrau um das Milchvieh, das im Stall der Familie auf ihrem Hof im Dorf stand und versorgt werden musste. Jeden Morgen brachte die Frau die Tiere auf die Weide. Dies geschah im August üblicherweise um halb sechs oder sechs Uhr morgens. Die Frau meinte, dass die Kühe im Morgengrauen eher als nach Tagesanbruch dazu geneigt seien, Milch zu geben. Später zur Weide zu gehen, sei zudem schmählich vor den Nachbarn.
Tagsüber beschäftigte sich die Frau – die als Lehrerin im Sommer lange Ferien genießt – mit der Hausarbeit. Verschiedene regelmäßige Tätigkeiten wie Waschen, Putzen, Kochen, Backen und das Kümmern um die Kinder fielen an. Dazu ist der Sommer die Zeit kleinerer Reparaturen und Wartungen, wie zum Beispiel der Instandhaltung der Sommerküche oder des Streichens der Holzteile des Hauses. Für solche Arbeiten gibt es keinen festen Plan.
Arbeitsintensive Vorgänge geschehen unter Beteiligung der Nachbarn, mit denen ein Haushalt im Verhältnis der so genannten allgemeinen Reziprozität steht, was heißt, dass beide Seiten einander geben und voneinander erhalten, ohne darüber Buch zu führen.
Die Hausarbeit der Frauen konzentriert sich ab Einbruch der Dunkelheit auf das Hausinnere.
Abends wurden die wenigen Kühe der Familie, die ansonsten unbeaufsichtigt in der Nähe des Dorfes weideten, vor Sonnenuntergang wieder auf den Hof geholt und erneut gemolken.
Ist die Hausherrin nicht zugegen, wird eine Frau aus der Verwandtschaft gebeten, sich um Kinder und die Tiere zu kümmern. Das kommt immer dann vor, wenn die Frau in der nächstgelegenen Stadt einkaufen oder Verwandte besuchen will.
Der Mann begleitet die Schafe auf dem Weidegang. Dieser begann im Sommer üblicherweise zwei bis drei Stunden nach Sonnenaufgang und dauerte bis zum Abend. Der Mann und seine Brüder, die zusammen einen großen Hof mit mehr als tausend Tieren führen, betreiben gemischte Viehhaltung. Neben Schafen und Ziegen, die das Gros der Herde ausmachen, werden weiterhin Kühe gehalten, die weitestgehend unbeaufsichtigt weiden und nur am Abend in ein Gatter am Hof getrieben werden.
Ein Bruder des Mannes kümmert sich regelmäßig um die Pferde, die mehr Pflege bedürfen. Sie werden im Sommer bis zu fünfmal täglich gemolken. Bei jedem Melkgang müssen die Fohlen beigeführt werden, um einen gefahrlosen Übergang zu garantieren. Das Melken ist die Aufgabe der neben vier Männern einzigen Frau auf dem Hof. Die Ehefrau des ältesten Bruders unterbricht ihre eigene Hausarbeit für diese Zeit. Sie kocht für die Arbeiter und hält den Haushalt am Laufen.
Zeitmessung und -gefühl
Interessant erscheint, dass die Menschen im Aul einen eigenen Zugang zur Zeitmessung haben. Ich konnte während meines Aufenthaltes vor allem auf Festen beobachten, dass niemand im Dorf Armbanduhren trägt. Zwar benutzen einige Bewohner ein Handy als Chronometer, doch auch damit ist nicht jeder ausgerüstet, da in der Abgelegenheit des Dorfes kein Empfang besteht.
Für Verabredungen verwenden die Menschen meist keine genaue Uhrzeit, sondern benennen eine Tageszeit. So kann es auch kaum zu Verspätungen kommen, da es sich um ungefähre Zeiten handelt.
Die Viehhaltung verlangt auch keine genauen Zeitmesser. Die meisten Höfe betreiben gemischte Tierhaltung, man kümmert sich nacheinander um die verschiedenen Arten. Dabei lässt sich feststellen, dass Pferde mehr Aufmerksamkeit benötigen. Dies liegt am häufigeren Melken und daran, dass Pferde, wenn ihnen keine Fußfesseln angelegt werden, weite Distanzen zurücklegen.
Jahreszeitliche Besonderheiten
Auffällig ist die jahreszeitlich geprägte Zeiteinteilung. Im Sommer häuft sich die Arbeit. In der kurzen Vegetationsperiode auf der Sary Arka beschäftigen sich die Dorfbewohner neben der Viehhaltung noch mit Gartenwirtschaft. Praktisch alle Grundstücke schließen einen Gemüsegarten mit ein, in dem Nutzpflanzen nach Bedürfnissen der Bewohner, vorwiegend jedoch Kartoffeln, zum eigenen Verzehr angebaut werden. Da die Winter bei dauerhafter Schneedecke und Temperaturen von teilweise unter minus vierzig Grad überaus rau sind, müssen Außenarbeiten wie die Reparatur der Häuser ebenfalls im Sommer durchgeführt werden.
Ein spezifischer Winterzeitbegriff der Kasachen ist die „sorym“. Zu dieser Zeit bei Wintereinbruch wird das Vieh zusammengetrieben und schwache Tiere, die nicht durch den Winter kommen würden, zur Schlachtung aussortiert. Es werden so viele Tiere verarbeitet, wie die Familien für die Ernährung im Winter brauchen. Die Aufbewahrung des Fleisches ist angesichts der frostigen Temperaturen keines Aufsehens wert. Zum „sorym“ werden Verwandte und Freunde eingeladen, um ein Schlachtfest zu feiern. Mehrere Tage lang wird ausgiebig gegessen und den Besuchern Fleisch geschenkt. Zu dieser Gelegenheit bringen in der Stadt wohnende Verwandte Industriewaren ins Dorf mit.
Weitere landwirtschaftliche Feste zu beschreiben, würde hier zu weit führen. Verwiesen sei jedoch auf „Sabantoi“, das Saatfest, das neben den Kasachen auch andere Turkvölker, wie die Tataren oder Baschkiren, feiern.
Religiöse Zeitlichkeiten
Ein bedeutender Teil von Festzeiten, die zum spezifischen Zeitbegriff unter Kasachen beitragen, ist in der religiösen Sphäre verankert. Interessant ist hierbei, dass die islamischen Feste im Mondkalender verhaftet sind und sich gegenüber dem Sonnenkalender verschieben. Zeiten wie Ramadan wechseln somit ihre Lage im Jahr. Ramadan wurde in Kurkeli vor allem von älteren Menschen gehalten. Das abendliche Fastenbrechen, zu dem die Ältesten des Dorfes (aksakal) erschienen, wurde jeden Tag in einem anderen Haus gefeiert. Die genauen Gebets- und Essenszeiten richteten sich nach astronomischen Vorgaben.
Auch beim Begräbnis überschneiden sich Zeitformen religiöser und ethnischer Ausprägung. Nachdem die Beerdigung selbst nach muslimischem Muster unverzüglich nach dem Tod eingeleitet wird, werden Erinnerungsfeiern an den Toten abgehalten – die erste am Freitag nach der Beerdigung. Damit ist jedoch der ausgefeilte Gedenkfestrhythmus in der kasachischen Kultur noch nicht zu Ende, denn zwei weitere Erinnerungsfeste an den Verstorbenen werden noch zelebriert. Das erste ereignet sich am vierzigsten Tag, das zweite, ein „as“-Fest in größerem Format, ein Jahr nach dem Tod. Zu diesem Fest werden ähnlich viele Gäste wie zur Beerdigung erwartet, sie speisen zusammen und erinnern sich in Lobreden und Gebeten an den Verstorbenen. Weitere „as“-Feiern werden bei berühmten Persönlichkeiten zu runden Jahreszahlen des Todes oder Geburtstages veranstaltet.
Lebenszeitlichkeiten
Der Vierzig-Tage-Rhythmus zeigt sich auch nach der Geburt eines Kindes. An diesem Tag hält die Familie im innersten Kreis eine Feier ab und badet das Kind in Salzwasser. Ebenso wird unter Verwandten ein Fest organisiert, nachdem das Kind gelernt hat zu laufen. Bei diesem Fest werden rituell angelegte Fußfesseln aufgeschnitten und von der versammelten Festgemeinschaft beobachtet, wie das Kind zum ersten Mal läuft.
Weitere Kinder- und Jugendfeste folgen, die sich bis zur Heirat erstrecken. Geschlechtsspezifisch gehören dazu das Beschneidungsfest der Jungen und das „kyz-uzatu“-Fest der Mädchen, mit dem sie vor der Heirat aus dem Haus der Eltern verabschiedet werden.
Eine Besonderheit in der Zeitzählung der Kasachen stellen die „müshel“-Feiern dar, die sich auf die Jahrestierkreiszeichen beziehen. Der Abschluss eines zwölf-Jahres-Zyklus wird extravagant gefeiert. Einige Informanten in Kurkeli gaben an, dass das darauffolgende Jahr schwer für einen Menschen sei und körperliche wie seelische Probleme mit sich bringen kann, wie etwa Krankheiten oder Verletzungen.
Eine Zeit aus vielen Zeitlichkeiten
Somit wird klar, wie reichhaltig die kasachische Kultur an Zeitlichkeiten ist. Während für die Mehrheit der Kasachen der dörfliche Zeitaufbau in den Hintergrund tritt, behalten Lebenskreisrituale der Menschen und volkstümliche Feiertage ihre Wichtigkeit. Besonders den kasachischen Feiertagen wie „Naurys“ wird eine besondere, von Staat und Verwaltung institutionalisierte Bedeutung zuteil, was noch in der sowjetischen Zeit undenkbar war.
Auch religiöse Zeitlichkeiten wie der Fastenmonat Ramadan haben enorme Auswirkungen auf das Leben der Menschen, da sie ihren Alltag darauf einstimmen müssen. Ähnlich wie in anderen Religionsgemeinschaften sind sie der Anlass, die sonst verstreute Familie zusammenzubringen. Religiöse Zeitlichkeiten überlagern also die ständig fortschreitende evolutionäre Weltzeit.
Von Philipp Jäger
24/04/09