Viele alte Bräuche der Kasachen sind heute kaum noch bekannt – überliefert nur in Erzählungen oder am Rande von Festen. Doch sie erzählen von einer reichen, tief verwurzelten Kultur, die es verdient, wiederentdeckt zu werden.

1. „Erulik“ (Ерулик) – das Kennenlernen und Begrüßen neuer Nachbarn

„Алыстағы ағайыннан, жақындағы көршін артық“ – sagen die Kasachen. Das bedeutet: „Ein naher Nachbar ist besser als ein entfernter Verwandter.“ In den rauen Bedingungen des Nomadenlebens war es schwierig, alleine mit den Herausforderungen des Lebens fertig zu werden. Deshalb schätzten und achteten die Steppenbewohner ihre Nachbarn sehr.

Wenn in einem Aul (also in einer kasachischen Nomadensiedlung) neue Bewohner einzogen, luden die Alteingesessenen sie zum Erulik ein – zu einem reich gedeckten Tisch, an dem man sich kennenlernte, miteinander sprach, sang und gemeinsam lachte. Dabei ging es nicht nur ums Essen, sondern auch um Zusammenhalt, gemeinsame Arbeit, das Teilen der Ernte oder Hilfe in Notzeiten wie bei Kälte oder Dürre.

Heute wird diese schöne Tradition leider nicht überall gepflegt. In Städten – anders als in Dörfern oder Auls – wissen viele Menschen nicht einmal, wer neben ihnen wohnt. Man lebt Tür an Tür, ohne Begrüßung, ohne ein Wort.

Als ich in München war, hat es mich sehr überrascht, dass sich die Menschen auf der Straße mit einem freundlichen „Grüß Gott“ grüßen – auch wenn sie sich gar nicht kennen. Auch die Gastgeberin meines neuen Wohnortes stellte mich sofort den Nachbarn vor. Ich brachte kleine Muffins für alle mit und so begann unsere Nachbarschaft. Während meines Studiums in Stuttgart, das durch ein ifa-Stipendium finanziert wurde, wohnte ich drei Monate lang in einer Mietwohnung. Die ifa-Mitarbeiter stellten mir einige Nachbarn vor, die in der Nähe wohnten. Von den ersten Tagen an halfen sie mir, mich am neuen Ort einzuleben. Das gab mir ein Gefühl der Sicherheit und die Gewissheit, nicht allein zu sein.

In Deutschland kann man die Namen der Nachbarn an den Klingelschildern am Hauseingang lesen. Außerdem gibt es in fast jedem Wohnviertel einen Platz für gemeinschaftliche Treffen, wie zum Beispiel bei der Freiwilligen Feuerwehr, wo regelmäßig Feuerwehrfeste stattfinden. Wer renoviert oder eine Veranstaltung plant, informiert die anderen vorher mit einem Aushang im Flur – ein Zeichen des Respekts. Häufig organisiert man gemeinsames Grillen, wobei jeder vorher angibt, was er zum Essen mitbringen wird.

In Stuttgart, Hannover, im kleinen Ort Auetal oder in Nienburg/Weser – überall, wo ich gelebt habe – wurde auf die Nachbarn Rücksicht genommen und das Miteinander gepflegt. Die Menschen sind freundlich, helfen gerne mit einer geborgten Bohrmaschine oder ein paar geschenkten Nägeln. Und ganz wichtig: Sie zeigen einem, wo die Waschmaschinen im Keller sind und wie man sie benutzt. Da das Waschen nach einem Plan erfolgt, sollte man sich daran halten und die Waschküche stets sauber hinterlassen – um Missverständnisse zu vermeiden.

Wenn man die kasachische Tradition des Erulik mit der deutschen Nachbarschaftskultur verbinden würde, wäre das Leben herzlicher. Menschen würden einander helfen und echtes menschliches Miteinander wäre wieder möglich. Nicht umsonst sagt man: „Man sollte sich nicht das Haus, sondern den Nachbarn aussuchen.“ Genau das lehrten uns unsere Vorfahren mit dem alten Brauch des Erulik.

Ich habe es sehr genossen, in verschiedenen Orten Deutschlands neue Nachbarn kennenzulernen, mit ihnen Ausflüge in die Natur zu unternehmen, Picknicks zu machen. Gerade als Ausländerin war das eine wunderbare Möglichkeit, Einsamkeit zu überwinden und die deutsche Mentalität besser zu verstehen. Die Nachbarn wurden fast wie Familie: Man wurde zu Geburtstagen und Familienfeiern eingeladen, lernte, wie man Geschenke auswählt, wo man sie kauft, und vieles mehr. So könnte man sogar deutsche Sprache „von innen“ kennenlernen.

So wird man Teil der Kultur, des Alltags, des Lebensrhythmus. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, sollten wir auch die Nachbarn als Teil unseres Lebens akzeptieren. Deshalb: Habt keine Angst, eure Nachbarn kennenzulernen – fangt einfach damit an, sie zu grüßen. Mit einem Gruß wünscht man sich schließlich Gesundheit.

2. „Шаш өру“ – „Shash örü“ – Das Flechten der Haare

Unverheiratete kasachische Mädchen flochten ihr Haar in einen einzigen Zopf – das symbolisierte ihren ledigen Status. Nach der Hochzeit wurden die Haare geöffnet und in zwei Zöpfe geflochten. Vor der Abreise ins Dorf des Ehemanns verabschiedete sich die Braut von ihrer Familie mit dem Lied „Synsu“ – einem Abschiedslied. Die Verwandten überreichten ihr wertvolle Geschenke für das künftige Eheleben.

Das bedeutete das Ende der Einsamkeit – die Frau trat nun in den neuen Lebensabschnitt als Ehefrau ein. Vor ihrer Abreise besuchte die Braut mit ihren Freundinnen nochmals die Verwandten. Auf dem Weg von Dorf zu Dorf sang sie „Synsu“ – ein Lied über das bittersüße Schicksal der Mädchen. Die Familie gab ihre Ratschläge und segnete sie für die Zukunft.

Diese Tradition zeigte der jungen Frau, dass sie nun eine neue Familie gründet und als Hüterin des Herdes und zukünftige Mutter Verantwortung übernimmt.

3. „Құлақ тесу“ – „Qulaq tésu“ – Ohrlochstechen

Etwa im Alter von sechs Jahren – manchmal auch früher – wurden den Mädchen die Ohrläppchen durchstochen. Dies geschah mit einer silbernen Nadel oder mit zwei Hirsekörnern. In die frisch gestochenen Löcher wurden Seidenfäden eingeführt. Nach dem Verheilen ersetzte man diese durch kleine silberne Ohrringe mit Perlmutt oder einfache silberne Schmuckstücke.

Es gab ein Sprichwort: „Құлақ тесу-кыздын сундетi“ – „Qulaq tésu – qyzdyn sünneti“ – „Das Stechen der Ohren ist das Mädchenritual“. Dies war ein bedeutender Tag für die Mädchen, der zeigte, dass sie langsam erwachsen wurden.

An diesem Tag wurde ein Fest organisiert, Gäste wurden eingeladen, und das Mädchen wurde geehrt, geschätzt und gefeiert. Die Zeremonie symbolisierte, dass auch Mädchen in der Familie wertgeschätzt wurden. Die Familie schenkte ihnen Aufmerksamkeit, zeigte ihnen, dass sie schön und geliebt sind, und dass sie nun als Helferin und kleine Hausherrin ernst genommen werden.

Warum nicht die Traditionen wiederbeleben?

Und gleichzeitig lernen, wie man seine Nachbarn wie in Deutschland wertschätzt? Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zu finden zwischen modernen Gewohnheiten und den alten, bewährten Traditionen der Nomadenkultur. Alle drei beschriebenen Bräuche zeigen, wie kleine alltägliche Handlungen das Miteinander stärken – innerhalb der Familie und in der Nachbarschaft. In der Nomadenzeit spielte gegenseitige Hilfe eine große Rolle – und auch heute wäre sie ein wertvoller Begleiter im Leben.

Heute haben wir leider oft vergessen, was ein guter Nachbar ist, was Vertrauen bedeutet und welche Freude einfache menschliche Beziehungen bringen können. Das Vergessen von Traditionen führt zu einem Verlust kultureller Identität und innerer Leere. Traditionen entwickeln sich weiter – aber wir sollten auch die alten Werte bewahren, die über Generationen hinweg weitergegeben wurden.

Zum Beispiel könnte die Begrüßung neuer Nachbarn heute sehr hilfreich sein – so könnten sie sich schneller einleben und Freundschaften mit ganzen Familien schließen. Wie es so schön heißt: „Ein guter Nachbar ist besser als ein ferner Verwandter.“

Lasst uns also nicht in Vorurteilen verhaftet bleiben – sondern uns einfach freuen, dass wir Nachbarn sind. Denn durch die Fürsorge füreinander entsteht mehr Menschlichkeit und die neue Generation wird durch sie geprägt. Und diese neue Generation – sie ist doch der Nachbar von morgen.

Alles ist in der Natur im Gleichgewicht, man muss nur lernen, alte Traditionen wertzuschätzen und sie dann zu nutzen, wenn sie dem Zusammenleben nützen. Meine Generation erinnert sich daran, wie Nachbarn Stühle schenkten, wenn für die Feiertage nicht genug da waren, wie sie sich gegenseitig mit Süßigkeiten und anderen Dingen verwöhnten. Was man von der jüngeren Generation nicht sagen kann.

Und wenn es Mädchen in der Familie gibt, feiert man gemeinsam, freut sich, heiratet später und gibt dem Nachbarn Ratschläge für das zukünftige Leben. Schauen Sie nur, wie drei vergessene Bräuche Nachbarn vereinen und ein langes Leben lang zusammenleben konnten. Man muss nur mit einem einfachen Schritt beginnen und seinem Nachbarn „Hallo!“ sagen.

Rukhsaram Seitova

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