Anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls wurde an der Pädagogischen Universität Taras die Ausstellung „Voll der Osten“ gezeigt. Bei vielen der jungen Besucher sorgten die Eindrücke vom Leben hinter der Mauer für Erstaunen. Andere reflektierten über die Gegenwart.

1982 besuchte ich ein physikalisches Forschungsinstitut in Riga. Die Mutter eines Mitarbeiters sträubte sich, mich bei ihr übernachten zu lassen, denn in ihrer Wohnung waren Bad und Toilette nicht getrennt, und so etwas gäbe es in der DDR bestimmt nicht, könne sie einem Gast aus der DDR deshalb nicht zumuten. Erst als ich ihr versicherte, dass ich in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Ofenheizung und Toilette im Treppenhaus wohne, war sie erleichtert und lud mich gern ein.

Diesen und anderen Idealbildern stellt die Ausstellung „Voll der Osten“, die im September/Oktober an Pädagogischen Universität in Taras zu sehen war, Photographien aus den 1980-er Jahren entgegen. Sie zeigen das Leben in der DDR vor allem in seinen tristen Seiten und in seiner Widersprüchlichkeit zu den Verheißungen der herrschenden Propaganda.

Ältere Kasachstaner, die die DDR nicht besucht haben, sind davon eher überrascht. Doch werden dadurch die Unzufriedenheit der DDR-Bürger und schließlich der Mauerfall verständlicher. Und dieser war ein wichtiger Teil des Zusammenbruchs des sozialistischen Staatenbundes und der Sowjetunion, dem Kasachstan seine Selbständigkeit verdankt. Zugleich zeigt die Ausstellung – in den Texten mehr als in den Fotos – überraschend viele Parallelen zum Leben in Kasachstan.

„Fröhliche Revolution“

„Für jeden kam irgendwann der Abschied vom Kinderglauben, in einer Welt des Guten und Schönen zu leben.“ Das ist heute anders. Fast alle Massenmedien beschreiben die Gegenwart als die – bis auf Kleinigkeiten – beste aller möglichen Welten. Die Kinder lernen von klein auf, dass (fast) alle anderen Menschen Konkurrenten seien, vom Platz im Kindergarten bis zum Arbeitsplatz.

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Eine Schwäche der Ausstellung besteht mithin darin, dass sie so tut, als gäbe es in Westdeutschland bzw. heute keine Altersarmut, keine Armut vor allem von Kindern Alleinerziehender, keinen Pflegenotstand, nicht mehr Bürokratie als früher und verschmutzte Bürgersteige und Parkanlagen wie früher. Außerdem macht sie leider keinen Unterschied zwischen den stalinistischen 1950-er und teilweise 1960-er Jahren und den 1970-er und 1980-er Jahren (1971 löste Honecker Ulbricht ab). Begleitet von vielen Rückschritten entkrampften sich langsam die politischen Diskussionen. Der fortschrittlichen Akademie der Gesellschaftswissenschaften der SED standen das Institut für Marxismus-Leninismus der SED und die Propaganda-Abteilung des Zentralkomitees gegenüber, beide als rückschrittlich bis stalinistisch verschrien.

Originell dagegen die Bezeichnung „fröhliche Revolution“; es wird der von mir sehr geschätzte Wolf Biermann mit seinem Lied „Ermutigung“ zitiert: „Du, lass dich nicht verbrauchen / Gebrauche deine Zeit / Du kannst nicht untertauchen / Du brauchst uns, und wir brauchen / Grad deine Heiterkeit“ (1966, gemacht für Peter Huchel).

Großer Unterschied zwischen DDR und Sowjetunion

Viele Besucher – hauptsächlich Sprach-Studentinnen und Lehrkräfte der Universität, aber auch Mitglieder der Deutschen Gesellschaft des Gebietes Schambyl – sind erstaunt bis erschrocken angesichts der Abbildungen des Niedergangs. „Weinen … Schmerz … Trennung“ empfinden nicht wenige angesichts der Folgen des Mauerbaus. „Wussten die Chefs von Ost- und Westberlin nicht, wohin Sturheit und Unwille zum Kompromiss führen, nachdem sie über Nacht zwei Völker ein und desselben Staates getrennt haben?“, fragen sich einige. „Wussten die Generalsekretäre der Kommunistischen und Arbeiterparteien der Warschauer Vertragsstaaten nicht, dass sie mit der Abschottung durch die Westgrenze Mauern in die Herzen und das Leben der Menschen setzen?“, bemühten sich andere zu verstehen.

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„Urplötzlich wurden Familien auseinandergerissen, konnten Menschen nicht nach Hause zurückkehren. Umgekehrt gab es die abenteuerlichsten Versuche, die Grenze gen Westen zu überwinden. In der Bernauer Straße sprangen einige aus ihren Fenstern, andere gruben Tunnel“, erinnern sich ältere Besucher. Jüngere Besucher freuen sich über die neuen Möglichkeiten, die es für die Menschen in diesen Staaten jetzt gibt. „Leider gibt es immer noch solche Grenzen“, gibt eine Studentin koreanischer Abstammung zu bedenken, „siehe Korea und Israel/Palästina.“

Gewerkschaften wurden zum Teufel gejagt

Besucher, die des Öfteren in Deutschland waren, wiesen auch auf den großen Unterschied zwischen der DDR und der Sowjetunion (und den übrigen ehemals bolschewistischen Ländern Osteuropas) hin. In der DDR wurden infolge des Beitritts nach § 23 Grundgesetz die politische, militärische und wirtschaftliche Elite vollständig ausgetauscht. In den anderen Ländern beschloss sie den Seitenwechsel, weil sie im Kapitalismus viel reicher wird als im Bolschewismus. So wurden in der DDR die führenden Opponenten mit guten Pfründen versorgt – in einigen osteuropäischen Ländern gelangten sie früher oder später an die politische Macht. Gemeinsam wiederum ist die Schwarz-Weiß-Malerei, mit der sie die Art und Weise der vollzogenen Änderungen und damit die zum Teil negativen Folgen für die Masse der Bevölkerung rechtfertigen.

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In allen diesen Ländern waren die Gewerkschaften „Treibriemen der Partei“. Deshalb wurden sie nach den Umwälzungen zum Teufel gejagt. (In Polen wurde die „Solidarität“ zu einer politischen Partei, damit ihr Vorsitzender Staatspräsident wird.) Danach stehen die Arbeitnehmer ohne eigene Interessenvertretungen dar. In der DDR besaßen die Gewerkschaftsleitungen viel umfangreichere Mitspracherechte als die Arbeitnehmervertretungen in Westdeutschland; sie wurden allerdings erst am Ende der DDR konsequent wahrgenommen.

In den deutschen Betrieben, in denen es einen guten Betriebsrat gibt, geht es den Arbeitnehmern deutlich besser bei Bezahlung, Kündigungs-, Arbeits- und Gesundheitsschutz. Gleichzeitig werden hierdurch die Arbeitsmoral verbessert und die Arbeitsproduktivität vergrößert. Deshalb kann ich dieses Modell meinen kasachischen Freunden nur empfehlen.

Peter Enders, Prorektor der Pädagogischen Universität Taras

Ich danke Frau Alvira Aschirowa ganz herzlich für das Zusammentragen von Besuchermeinungen.

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