In einem kleinen Dorf westlich von Bischkek entsteht ein Projekt, das jungen Menschen Hoffnung und ein Zuhause bietet. Zwei Idealisten haben sich zur Aufgabe gemacht, Waisenkinder auf dem Weg in ein eigenständiges Leben zu begleiten. Und wer möchte, kann hier für einige Zeit verweilen, mitleben und mitgestalten.
„Keine Arbeit gibt dem Menschen so viel zurück wie die Farmarbeit. Man hält im Herbst in den Händen, was man im Frühling gesät hat.” Jengisch Odiginejew spricht begeistert von seinem neuen Leben auf dem Lande. „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, zurück nach Bischkek zu ziehen, wo alles so laut und dreckig ist.“ Vor zwei Jahren zog er mit seiner Frau nach Tokmok, um von hier aus ein einzigartiges Projekt aufzubauen. Emma Odiginejewa kam vor acht Jahren als Freiwillige aus Kanada nach Kirgisistan, um mit Waisenkindern zu arbeiten. Gemeinsam kauften sie zwei kleine Bauernhäuser mit etwas Land in dem Dorf Rot-Front, das beschaulich am Fuße des Tienschan-Gebirges liegt.
Lücken im System schließen
„Wenn die Kinder hier in Kirgisistan aus den Waisenhäusern entlassen werden, sind sie zwar volljährig, aber oft noch nicht bereit, sich alleine in der Welt zurechtzufinden. Viele haben traumatische Familiengeschichten hinter sich und sind noch nicht in der Lage, sich eine eigene Existenz aufzubauen.“, berichtet Odiginejewa. Um diesen Übergang in die Selbständigkeit zu erleichtern, kam den beiden die Idee, einen sich selbstversorgenden Hof aufzubauen, in dem die jungen Erwachsenen die Farmarbeit lernen können und Selbstvertrauen gewinnen. So sammelten die beiden Spendengelder und begannen mit der Arbeit an dem neuen Zuhause für zehn junge Menschen zwischen 18 und 25, die mit zwei Familien aus der Umgebung leben.
„Im Sommer gibt es viel Arbeit. Gerade bei der Pflege der Tiere gibt es immer gut zu tun,“ sagt Jengisch Odiginejew. In den Ställen gibt es Kühe, Bullen und Schweine, dazwischen tummeln sich Gänse und Enten. „Wir wollen, dass die Heranwachsenden hier Verantwortung übernehmen und das Gefühl bekommen, dass ihre Arbeit etwas wert ist.“ Um auch im Winter für sich sorgen zu können, wird gerade ein Gewächshaus gebaut, in dem Gemüse für sich selbst und für den Verkauf angebaut werden soll. Der Mitinitiator des Projekts betont, dass es sich bei dem Hof offiziell um ein selbstständiges Wirtschaftsunternehmen handelt. In Kirgisistan gäbe es keine Programme, um ein solches Projekt zu fördern. Man ist auf die eigene Arbeit und auf Spendengelder aus dem Ausland angewiesen. Die jungen Männer sind hier offiziell angestellt und beziehen ein kleines Gehalt.
Eine Perspektive und Selbstvertrauen für die Zukunft
„Außerdem versuchen wir den Jugendlichen handwerkliche Fähigkeiten mit auf den Weg zu geben, um ihnen eine dauerhafte Perspektive zu geben,“ hofft Odiginejew. So sollen sich einige in der eigenen Werkstatt mit dem Tischlerhandwerk vertraut machen. Andere planen, nebenher die Fahrschule zu besuchen, um die Ausbildung zum Kraftfahrer zu absolvieren. Auch eigene Handarbeiten, wie selbstgemachte Seife aus Ziegenmilch oder Mützen aus Filz kann man im kleinen Souvenirladen des Hofs kaufen. Besonders freut Emma Odiginejewa, dass drei ihrer ehemaligen Schützlinge mittlerweile die Universität in Bischkek besuchen. Doch auch für diejenigen, die den Hof verlassen, soll er als Netzwerk und Rückhalt weiter bestehen bleiben, betont sie. „Wir sind hier wie eine Familie, für viele die erste, die sie jemals hatten.“ So könne man immer, auch nach Jahren, zurückkommen und um Rat und nach Hilfe fragen. Man bemüht sich, weiterführende Jobs und Ausbildungen zu vermitteln und hat ein offenes Ohr für die Probleme, die das eigenverantwortliche Leben mit sich bringt.
Weltoffenheit und Gastfreundlichkeit sind Teil des Konzepts
Doch das innovative Projekt im kirgisischen Tschui-Tal erschöpft sich nicht in Feldarbeit und Viehzucht. Seit einem Jahr steht neben dem Hof ein kleines Bauernhaus, das liebevoll zu einem Ferienhaus für Besucher ausgebaut wurde. Sehr günstig können hier in einfachem, aber sauberem und gemütlichem Ambiente Gäste einige Tage verweilen. Acht Betten mit Aufenthaltsraum und Bad stehen bereit. Gegessen wird, je nach Wunsch, drei Mal am Tag gemeinsam mit den Jugendlichen und der Familie am großen Esstisch im Haupthaus.
„Das Gästehaus ist Teil unseres Konzepts. Wir wollen, dass Menschen aus aller Welt unser Projekt kennenlernen und auch, dass die Jugendlichen hier Kontakt zu Menschen aus fremden Kulturkreisen bekommen. Außerdem helfen die Einnahmen uns zu finanzieren. So hoffen wir irgendwann ganz unabhängig von Spenden werden zu können.“ sagt Odiginejewa. Doch nicht nur für Besucher steht der Hof offen: Wer möchte, könne auch für Kost, Logis und die Nutzung des UAZ 452 gerne einige Wochen oder Monate freiwillig auf dem Hof mitarbeiten und sein Wissen und seine Fähigkeiten einbringen.
„Wir suchen dringend Leute mit Geschick oder Know-how im landwirtschaftlichen oder handwerklichen Bereich, die uns helfen, uns so zu verbessern, dass wir wirtschaftlich unabhängig werden können.“ Auf die Frage, ob es Pläne gibt, das Projekt auszuweiten, gibt die junge Frau deshalb zu bedenken, dass der Betrieb in den letzten zwei Jahren sehr schnell gewachsen sei und es jetzt zunächst gilt, das Erreichte abzusichern. Nächsten Sommer wolle man aber vielleicht, etwas abseits vom Dorf, mit einer kleinen Schafzucht beginnen.
Tourismus aus einer ländlichen Perspektive
Daniel Renftle, Student aus Deutschland, der für einige Tage hier gastiert, gefällt das Landleben sehr gut: „Dieses Projekt ist eine gelungene Kombination aus Ökotourismus und sozialer Inklusion. Es ist nicht nur für die hier arbeitenden jungen Frauen und Männer eine Chance auf eine bessere Zukunft, die ihnen mit ihrem sozial stigmatisierten Hintergrund ohne die Unterstützung durch die eigene Familie oft verwehrt bliebe. Es ist auch für Reisende eine super Gelegenheit, die sozialen Strukturen vor Ort und das Landleben kennenzulernen. Man erlebt hier ein wenig mehr als nur die immer gleichen Hostelgäste in der Hauptstadt.“ Doch nicht nur für Ferien auf dem Bauernhof eignet sich diese außergewöhnliche Unterkunft. Das Umland bietet vielseitige Möglichkeiten zu abenteuerlichen Ausflügen. „Wir wollen hier einen Tourismus von unten aufbauen, der sich am echten Leben der Menschen orientiert“, macht Jengisch Odiginejew klar. Kurzfristig organisiert er Pferde vom benachbarten Gehöft für einen Ausritt in die Berge. Der rustikale russische Geländewagen des Hofs kann für kleines Geld ausgeliehen werden, um mal eben zu den heißen Quellen nach Issyk-Ata oder zum mittelalterlichen Turm von Burana zu fahren.
Doch der Besucher muss noch nicht einmal aus Rot-Front hinausfahren, um etwas zu erleben. In dem kleinen Dorf, das 1927 als Bergtal von deutschen Siedlern gegründet wurde, lebt noch eine beträchtliche Anzahl deutscher Siedler, die auf interessante Weise ihr Brauchtum und ihren mennonitischen Glauben pflegen. Wer möchte, kann im Bethaus die Gemeinde antreffen oder sich im kleinen Museum des Dorfes von Wilhelm Lategahn die Geschichte und aktuelle Situation der Kirgisistandeutschen im Ort erklären lassen. Der von der Zentralstelle für Auslandsschulwesen entsandte Lehrer lebt seit sieben Jahren in Rot-Front und freut sich stets, sein Wissen mit Interessierten zu teilen.
So unscheinbar das kleine Dörfchen aus zwei Straßen auf den ersten Blick wirken mag, verbirgt sich hier doch viel Herzlichkeit, Gastfreundschaft und sogar etwas Abenteuer. Wer also einmal raus will aus dem Smog der Großstadt, findet hier liebe Menschen, ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur und Pfade, die noch längst nicht touristisch ausgetreten sind.