Kasache, Russe oder Pole? Für den Autor Jurij Serebrjanskij stellt sich diese Frage erst gar nicht. Er ist mit allen drei Kulturen aufgewachsen und sieht sich einfach als Kasachstaner. Bei einer Podiumsdiskussion in Berlin stellte er sein aktuelles Werk „Kasachstanische Märchen“ erstmals einem deutschen Publikum vor und präsentierte seine Sicht auf das moderne Kasachstan, das viele unterschiedliche Elemente vereint.
Die Geschichten sind ein Flickenteppich aus „zugeschnittenen“ Motiven, Kulturen, der politischen Realität und verflochtenen Fäden aus Stereotypen im multinationalen Kasachstan. Versteckt hinter der Fassade von Märchen, lenkt Serebrjanskij den Blick auf verschiedene Probleme. So spinnt sich die Erzählung „Wohin ist der Aralsee verschwunden?“ um die Familiengeschichte der Brüder Kaspia und Aral, die auf der Suche nach dem Vater des Meeres sind. Kindgerecht erzählt, verweist die Geschichte auf eine der größten ökologischen Katastrophen der Region und regt zum Nachdenken über den Umweltschutz an.
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In dem Märchen „Erfinderkönig“ geht es um einen König, der erst eine Stadt am Fuße der Berge bauen ließ und ein Kommunikationssystem für die Stadt entwickelte. In der „schiefen Stadt“ verläuft die Kommunikation allerdings nur über Briefe – „in Flussrichtung von oben nach unten“. Am Ende verliert der König den Kontakt zu seinen Einwohnern.
Die Lesung in Berlin wurde vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) organisiert, das rund um die Märchenpräsentation auch eine Podiumsdiskussion zum Thema „Perspektiven kasachstanischer Identität im Kontext politischer Transformation“ abhielt. Gemeinsam mit der Zentralasienexpertin Beate Eschment und der Veranstaltungsmoderatorin Nina Fries, die zu Wechselbeziehung zwischen Politik und Literatur forscht, sprach Serebrjanskij über aktuelle Themen in Kasachstan.
Der studierte Chemiker mit Schwerpunkt Ökologie arbeitete einige Zeit im Umweltministerium Kasachstans, bevor er sich dem Journalismus und der Literatur zuwandte. 2010 und 2014 wurden seine Erzählungen mit der „Russischen Prämie“ ausgezeichnet, dem wichtigsten Literaturpreis für außerhalb Russlands auf Russisch schreibende Schriftsteller. Er ist Redakteur der polnischen Diasporazeitung „Ałmatyński Kurier Polonijny“ und war von 2016 bis 2018 Chefredakteur von „Esquire Kasachstan“.
Als Journalist und Autor beschäftigt sich Serebrjanskij intensiv mit der Reflexion von Literatur und verschiedenen Formen von Zensur: „Über das, was wir heute in Kasachstan beobachten können, werden wir wahrscheinlich erst in 50 Jahren lesen können.“ Er beobachtet besonders im Journalismus Selbstzensur, die er als eine Form von Kompromissversuch bezeichnet. Denn man dürfe nicht vergessen, dass es auch offene Informationskanäle gibt, wie zum Beispiel die sozialen Medien, in denen Akteure sich offen positionieren, so Serebrjanskij.
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Besonders nah geht ihm jedoch das Konzept „Kasachstaner“, das seiner Meinung nach die fehlenden Identitätskonstrukte der vielen ethnischen Gruppen in Kasachstan widerspiegelt. Er selbst hat polnische Wurzeln, lebt aber bereits in dritter Generation in Kasachstan und ist mit der russischen, polnischen und kasachischen Kultur aufgewachsen. „Ich wollte Geschichten schreiben, die Menschen wie mich selbst berühren“, erzählt Serebrjanskij. Insgesamt 14 Märchen hat er geschrieben. Das Buch ist auf seinen Wunsch hin in zwei Sprachen erschienen: auf Kasachisch und Russisch. Für ihn sei es ein „natürlicher Weg“, um sich als kasachstanischer Autor zu fühlen. Außerdem könne es Leuten dabei helfen, Kasachisch zu lernen.
„Kasachstanische Märchen“ ist bereits das siebente Werk des Schriftstellers, und das erste Buch in Kasachstan, das über Crowdfunding finanziert worden ist. Zusammen mit dem Verlag „Aruna“ wurde eine Crowdfunding-Agentur gegründet, die 560.000 Tenge sammeln konnte. Außerdem zog die Publikation so schon vor der Veröffentlichung 2017 viel Aufmerksamkeit auf sich. Die erste Auflage von mehr als 3000 Exemplaren ist bereits ausverkauft. Für die zweite Auflage ist eine zusätzliche englischsprachige Ausgabe geplant.
Übersetzung aus dem Russischen: Olga Janzen