Die Bilanz des neuen ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko sieht ein Jahr nach dem Beginn der orangefarbenen Revolution düster aus. Seine zentralen Versprechen, allen voran die Bekämpfung der Korruption, konnte er nicht verwirklichen. Ein Jahr nach dem demokratischen Aufstand sind die Ukrainer enttäuscht von dem Präsidenten, für den sie wochenlang demonstrierten. Doch bei aller Enttäuschung blicken die damaligen Demonstranten immer noch positiv auf die Ereignisse des letzten Herbstes zurück.
Zelte auf der Hauptflaniermeile Chreschtschatyk, Sprechchöre vor der stalinistischen Häuserkulisse – in diesen Tagen scheint die Revolution zurückzukehren in die ukrainische Hauptstadt Kiew. Am 22. November jährt sich der demokratische Aufstand zum ersten Mal. Doch die Szenerie täuscht: Ein Film wird gedreht, eine Liebesgeschichte mitten im Protestlager. Den Kiewern ist nach solcher Romantik weniger zumute: „Wir sind alle tief enttäuscht”, sagt die 21-jährige Studentin Jaroslawa Warawa, die skeptisch auf die Filmkameras schaut. Noch bei der Inaugurationsfeier von Präsident Viktor Juschtschenko im Januar hatte sie Tränen in den Augen. „Der schönste Tag meines Lebens”, hatte sie damals gesagt.
Laut Umfragen vertrauen nur noch 20 Prozent der Ukrainer Juschtschenko – dem Mann, dem sie durch ihre Proteste zum Wahlsieg verhalfen. Wochenlang demonstrierten Hunderttausende gegen die gefälschten Präsidentenwahlen und erreichten im Dezember eine Wiederholung nach demokratischen Standards. Für die Enttäuschung kann der Kiewer Politologe Wolodymyr Polochalo aus dem Stegreif gleich zehn Gründe aufführen – allen voran „die mangelnde Professionalität der neuen Regierungsmannschaft”. So würden dringende Entscheidungen monatelang verschoben, zurzeit gibt es weder einen ukrainischen Botschafter in Washington noch in Berlin. Außerdem habe Juschtschenko zentrale Wahlversprechen bisher nicht erfüllt. Die Korruption blühe wie eh und je, eine von der Politik unabhängige Gerichtsbarkeit gebe es nicht. Den tiefsten Schock erlebten die Ukrainer im September. Juschtschenko entließ die schöne Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die mitreißende Rednerin auf der Revolutionstribüne. Sie hatte Korruptionsvorwürfe gegen Gefolgsleute des Präsidenten erhoben. Zu allem Übel schloss der Präsident auch noch einen Pakt mit seinem ehemaligen Erzrivalen Viktor Janukowitsch, der mutmaßlich an den Wahlfälschungen im vergangenen Herbst beteiligt war. Janukowitschs Partei unterstützte den farblosen neuen Regierungschef Jurij Jechanurow im Parlament – und Juschtschenko sicherte im Gegenzug allen Wahlfälschern Straffreiheit zu.
Der Präsident hat Angst vor seiner Nation. Das sichtbare Zeichen: Die Bankowa-Straße, an der die Präsidialverwaltung liegt, hat er von beiden Seiten durch hohe Eisengitter abriegeln lassen. „Ich wohne schon mein ganzes Leben hier, selbst unter den Kommunisten konnte man hier durchgehen”, empört sich die 65-jährige Rentnerin Valentina Makarenko. Sie muss jetzt einen Umweg nehmen, wenn sie zum Einkaufen ins nächste Geschäft geht. Trotzdem hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben: „Juschtschenko hat uns viel versprochen, daran werden wir ihn immer wieder erinnern. Wir haben ja jetzt Meinungsfreiheit.“
Tatsächlich hat die orangefarbene Revolution zumindest eines bewirkt: Die Politik ist transparenter geworden, auch das Privatleben der Politiker. Ein Beispiel: Die Berichte über das mondäne Leben von Juschtschenkos Sohn Andrij, der einen 140.000 Euro teuren BMW-Sportwagen fährt. „Das war der erste ukrainische Skandal, der nach europäischem Muster abgelaufen ist”, sagt Serhij Lescht-schenko, Redakteur der Internet-Zeitung „Ukrainska Prawda”: „Alle Medien haben darüber berichtet, und kein Journalist ist deswegen ermordet worden.” Früher oder später werde die neue Pressefreiheit die Ukraine auf den Weg der Demokratie bringen, meint Serhij Leschtschenko deshalb.
Das sieht auch die Studentin Jaroslawa Warawa so: „Die neue Regierung ist schlecht. Aber die Revolution hat den Politikern gezeigt, dass wir als Volk eine Macht sind und etwas verändern können.” (n-ost)
25/11/05