Der heute in Deutschland lebende ehemalige Redakteur Eugen Warkentin erzählt, wie in der Redaktion der „Freundschaft“ ein Geschenk für den Chef gesucht und sowjetische Ehrenmedaillen „gerecht“ verteilt wurden.
Unser Chefredakteur Alexej Borissowitsch Debolski wurde sechzig. Wir, die Mitarbeiter der Zeitung, dachten nach, was wir ihm aus diesem Anlass schenken könnten. Nach vielen Überlegungen kamen wir auf die Idee, ihm Skier zu besorgen – die besten und die modernsten, die es in unseren Sportgeschäften gab. Dazu informierten wir uns bei den Sportbehörden. Es stellte sich heraus, dass man da unseren Chef bereits gut kannte: „Der läuft ja oft im Park am Ischim wie ein echter Profi”, erzählte man uns. Nach vielem Telefonieren und Nachfragen hatten wir die allerbesten und modernsten Bretter. Als es dann soweit war, versammelten wir uns im größten Raum. Der Chef musste sich auf den „Ehrenstuhl” setzen. Er schmunzelte irgendwie vielsagend.
Und dann erhob er sich und sagte, da er der Älteste sei, wage er es auch, als erster das Wort zu ergreifen: „Ich weiß, was ihr vorhabt. Das rührt mich. Aber ich hoffe, dass ihr nichts dagegen habt, wenn ich selber etwas über mich sage.”
Und er hielt ganz unerwartet einen Vortrag darüber, wie sich ein Mensch mit fünfzig bzw. mit sechzig Jahren fühlt, für was er sich noch interessiert, wie fit er ist, was für Interessen und Leidenschaften er hat.
„Ich ahne schon, ich weiß – hinter meinem Rücken bin ich für euch der Djed, der Opa!”
„ Ach wo, Chef, da übertreiben Sie aber. Ja, Sie sind der Djed, aber der Djed sind Sie vom ersten Tag an wegen Ihres Bartes.”
„Na gut, ich verstehe Spaß“, antwortete Debolski, „aber ich bin noch fit und könnte wetten, dass ich im Skilauf, im Schwimmen und auf dem Schachbrett mit einigen von euch noch gut mithalten kann.” Da gab es einen Applaus. „Na gut, na gut. Ich sagte es nicht, um Applaus zu bekommen. Ich wollte damit nur betonen, dass jeder selbst etwas für seine Gesundheit tun muss.”
Danach sprachen alle durcheinander. Denn wir wussten, dass unser Djed auch Sinn für Witze und Humor hatte.
Einer von unseren Mohikanern
Es war in den sechziger Jahren, in den ersten Monaten, als ich in der „Freundschaft” zu arbeiten begann. Spät nachmittags sagte irgendwer von den Kollegen: „Wir bekommen heute Besuch. Ein Schriftsteller ist da. Ernst Kontschak.” Der Name war mir völlig unbekannt. Am späten Nachmittag machte Alexej Debolski mit dem Gast einen Rundgang durch die Redaktion. Es war ein ziemlich bejahrter Mann mit Falten im Gesicht und herausragenden Backenknochen. Aus den tiefen Augenhöhlen lächelten freundliche Augen.
Der Gast fragte jeden von uns, von wo wir stammten. Das war in den Jahren üblich, denn keiner von uns war hier in Kasachstan zu Hause. Als er meinen Namen hörte, sagte er sofort: „Sie müssen bestimmt irgendwo von der Molosch stammen?” „Genau“, antwortete ich, „unweit von Halbstadt… Mariawohl.”
„Ich bin zwar auch ein ehemaliger Ukrainer. Aber weiter aus dem Westen, aus Wolhynien.” Wir hatten nicht viel Zeit, aber der Gast sagte, wir könnten uns vielleicht später am Abend im Hotel unterhalten.
Ernst Kontschak war ein sehr vitaler und interessanter Gesprächspartner. Er schüttete eine Geschichte nach der anderen aus dem Ärmel: Aus seiner Jugendzeit, aus den Jahren im hohen Norden, wohin er schon in den schrecklichen 30er Jahren verbannt worden war. Wir unterhielten uns bis spät in die Nacht. Für mich war Kontschak der erste Mensch, der so ausführlich, so ausdrücklich und interessant über seine schreckliche Vergangenheit erzählte.
Später freute ich mich immer, wenn in Zeitungen oder Sammelbänden seine Geschichten erschienen. Ich las sie mit Vergnügen, denn sie waren niemals langweilig.
Später kamen oft Literaten zu Besuch in die Redaktion. Es waren Dutzende. Und es war für uns immer ein außerordentliches Ereignis. In jenen Jahren konnten die Betroffenen noch ganz wenig über ihr Schicksal schreiben. Aber erzählen durften sie es schon. Ich hatte Glück, fast ein Jahr lang mit Leo Marx in einem Raum zu arbeiten. Er war ein fantastischer Erzähler. Vieles hat er später in seinen Geschichten dargestellt. Er hatte es sehr gut gemacht. Aber seine live dargebotenen Erzählungen waren viel derber und offener.
Auf dem Subbotnik
Es war während eines Subbotniks im April, als wir alle, die ganze Redaktion der „Freundschaft”, und nicht nur unsere, sondern alle anderen Redaktionen, alle Journalisten der Neulandmetropole, alle Bürger der Sowjetunion, Lenins Geburtstag ehrten: Man fegte und schrubbte die Straßen, die Wege, in den Parks. Die Arbeit machte Spaß. Unser alter Chef half gewöhnlich mit. Aber an diesem Tag hatte er keine Lust, die Blätter zu harken und wegzuräumen. Er schlenderte irgendwie demonstrativ durch den Park am Ischim mit einem Rekorder in der Hand und tat so, als ob ihn diesmal das Harken und Schrubben nichts anging. Mehr noch: Er hatte den Rekorder so laut aufgedreht, dass man ihn in allen Ecken des großen Parks gut hörte. Unsere Kollegen aus der russischen und der kasachischen Redaktion lächelten und fragten: „Was ist denn heute mit eurem Chef los? Er ist heute so merkwürdig.” Wir schmunzelten: „Er umrahmt unsere Arbeit mit einem Kulturprogramm.”
Aber es waren Lieder aus dem Repertoire von Wladimir Wyssotzki. Unser alter Chef schätzte den weit bekannten quer denkenden Dichter, Schauspieler, Liedermacher und Sänger. Und er nutzte die Situation, um seiner zu gedenken.
Ein Medaillenregen
Im Jahr des hundertsten Geburtstags des größten Revoluzzers Wladimir Lenin hatte man sich in der Sowjetunion etwas Außerordentliches ausgedacht, nämlich die Bürger mit einem Medaillenregen zu überschütten. Jede Belegschaft, jeder Betrieb, jede Sowchose, jedes Kollektiv – ob Lehrer oder Ingenieure, ob Ärzte oder Journalisten – sollten mit diesem Metall bedacht werden. Unser Chef holte sein Redaktionskollegium zusammen, erklärte die Situation und sagte:
„Es gibt zwar eine ganze Menge Medaillen, aber nicht mal jeder zweite, nicht einmal jeder dritte wird beschert. Ja, und nach welchem Prinzip werden wir handeln, dass es keinen Streit gibt?”
„Eine Liste anfertigen”, sagte unser Kollege von der Gewerkschaft.” „Gut, gibt es auch andere Vorschläge?” Ja, noch eine Menge anderer Vorschläge wurde unterbreitet, aber sofort wieder verworfen. Da sprach der Chef ein Machtwort: „Unsere Gewerkschafter stellen eine Liste auf, in die alle eingetragen werden. Es kann ein jeder seine Vorschläge unterbreiten, d.h. Namen, darunter auch seinen eigenen, ankreuzen.”
Endlich war die Aktion beendet. Es lief alles gut ab. Nur einer von den ältesten Kollegen fühlte sich sehr gekränkt: Er blieb nämlich nach diesem „Plebiszit” ohne die Jubiläumsmedaille. Man versuchte, ihn zu beschwichtigen, irgendjemand war sogar bereit, ihm seine Medaille abzutreten. Schließlich beruhigte er sich.
Von Eugen Warkentin
29/12/06 – 05/01/07