Ich bin in einen neuen Mikrokosmos eingetreten. Ich war heute das erste Mal in einem Rehazentrum, man könnte fast sagen: meinem Rehazentrum, weil ich hier circa 55 Einheiten ableisten muss. Ableisten ist das richtige Wort, wie mir schon bei der Anmeldung deutlich wurde. „Bringen Sie Sportzeug und ein Handtuch mit. Sie können hier auch duschen. Das Training dauert 1 Stunde.“

Duschen? Handtuch? Sportzeug? Training? 1 Stunde? Oh Nein! Bisher fand ich die Physiotherapie immer ziemlich gut. Ich lag und wurde massiert. Nach 20 Minuten war alles lockerer, und ich konnte nach Hause gehen. Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt muss ich eine Stunde lang schuften, bis ich ins Schwitzen komme.

Heute ging es los. „Sind Sie das erste Mal hier?“ Ja, genau. Unsicher und staunend bin ich durch diese überwältigende Gerätelandschaft geschlichen. So viele große Geräte, die sicher tausend Tonnen wiegen und an denen man Gliedmaßen lassen kann, wenn man sich verkehrtherum darauf setzt. Zack, ist der Kopf ab, oder ein Bein wird abgetrennt, wenn die Falle, also das Gerät zuschnappt. Die anderen bewegen sich mit einer ziemlichen Gelassenheit und Selbstverständlichkeit auf den Todesmaschinen, sie kommen wohl schon länger her. In jedem Fall haben sie mehr Lebenserfahrung, meine Mitstreiter sind ausschließlich ältere Damen, ich erblicke keinen einzigen Mann und niemanden unter 55.

Sicher, der Mann an sich kümmert sich auch nicht so gern um die Gesundheit, wenn es ums Kranksein geht. Aber wo gehen die anderen jüngeren Frauen hin, wenn das Gebälk schief sitzt?? Ich suche den zuständigen Physiotherapeuten. Auch die anderen Damen möchten ihn sprechen. „Thorsten!“ ruft es aus allen Ecken den, der heute unser Personaltrainer ist. Man komme mit dem Einstellen der Geräte nicht zurecht. Zu viel Technik. Thorsten hilft und erklärt, dass man nicht mit dieser Schraube das Polster vom Gerät abschrauben solle, sondern mit jener den gesamten Sitz verstellen müsse. Aha! Ach so! Da ich kaum meine Einkaufstaschen gehoben kriege, habe ich beinahe Angst vor all den vielen Gewichten, die an jedem Gerät befestigt sind, und schiele zielsicher auf das Trampolin. Ja, das würde mir Spaß machen.

Nein, das ist nicht das, was ich machen soll. Wir besprechen kurz meine Beschwerden. Die Orthopädin hatte notiert: Zwei Bandscheibenvorfälle und Schwindel. Um mir mildernde Umstände zu erwirken, erkläre ich, dass das nur eine grobe Zusammenfassung ist, nur die Spitze des Eisberges, dass sich dahinter noch vier weitere Bandscheibenvorfälle, die Fehlstellung der Halswirbelsäule, Arthrose und diverse Ausfallerscheinungen verbergen. „Na, also, das klingt doch schon viel interessanter!“ Thorsten freut sich. Die Freude ist nicht meinerseits, aber schön, wenn auch Thorsten noch vor spannende Herausforderungen gestellt werden kann.

So milde fühlen sich die Übungen aber nicht an, schnell tut mir alles weh. Ein schielender Blick auf die Nachbarinnen: Wieviel Kilo schaffen die denn schon? Tun ihnen auch die Gliedmaßen weh? Sie sehen eher entspannt aus. Eine alte Dame stemmt doppelt so viel Gewicht wie ich. „Das ist zu schnell!“ mahnt Thorsten eine andere Dame, die nicht aufzuhalten ist. „Es geht hier nicht darum, möglichst schnell fertig zu werden!“ Das beruhigt mich. „Frau Oberländer!“ Frau Oberländer zuckt zusammen, sie wird dabei erwischt, sich lieber in ihrer Akte umzusehen als ihre Übungen zu machen. „Ja ja, ich mache ja weiter, ich wollte zwischendurch nur mal schnell …“ Erst die Übungen zu Ende machen und dann die Akten einsehen, heißt hier die Devise. Eine Dame eröffnet das Gespräch mit mir. Vier Monate hätte sie jetzt ausgesetzt. Erst hatte sie keine Lust mehr, dann hatte sie keine Zeit mehr, weil Karneval war, dann war sie im Urlaub und dann hat sie es irgendwie vergessen. Vielleicht eine neue Bekannte. Mit meinem Dauerabo in diesem Invaliden-Club kann ich sicher noch viel über das Leben erfahren. Schließlich sitzt die Weisheit in geballter Form um mich herum. Immerhin! Und wenn es dann auch noch dem Rücken hilft, finde ich die Sache inzwischen gar nicht mal so schlecht und bin weniger beleidigt.

Julia Siebert

10/07/09

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