Kann sich jemand vorstellen, dass man in sich nach einer Woche in einem kirgisischen Krankenhaus einen Philosophen, Kulturwissenschaftler, Sänger, Schauspieler, ein Sprachtalent, einen Lehrer und schließlich einen Arzt zugleich entdecken kann?
Das ist eher unwahrscheinlich. Doch wenn ein Mensch mal eine Blinddarmoperation vor sich hat (Gott bewahre!), sollte er nicht gleich an etwas Schlechtes denken. Vielmehr sollte er sich nach den Worten des Chirurgen: „Wir werden Sie aber aufschneiden müssen…“, sofort auf ein großes einwöchiges Abenteuer einstellen.
„…Wir werden Sie aber aufschneiden müssen…“
„Okay“, sagte ich.
„Also gut“, erwiderte er.
„Wann?“, fragte ich.
„Was wann?“, fragte er zurück und wendete sich an die Krankenschwester, die eine Patientenakte für mich anlegen sollte.
„Wann ist also die Operation?“, entgegnete ich.
„Jetzt gleich“, antwortete er ruhig und meinte, er werde sich jetzt umziehen und ich solle seinem Beispiel folgen.
„Okay!“, antwortete ich und war dabei völlig ruhig – allerdings nur äußerlich.
So einfach und schnell ging das: kein Grund zur Sorge, geschweige denn für Angst. Natürlich machten die Wände, Fenster, Stühle und alles andere im Krankenhaus keinen guten Eindruck auf mich. Doch obwohl es überall nach Arznei roch und alles in komischen Weiß-Blau-Grün-Grau-Tönen gestrichen war („In Deutschland sind alle Krankenhäuser weiß”, meinte eine deutsche Freundin von mir, die mich ein paar Tage später besuchen kam), erschien mir die Atmosphäredort gar nicht so übel. „Es ist alles nicht so schlimm, wenn man Besuch bekommt”, tröstete mich dieselbe Freundin.
Nachdem die Krankenakte auf den Namen „Malika Baschirowa“ ausgefüllt worden war, fehlte nur noch die Unterschrift meiner Person. Noch ganz kurz überlegte ich, ob die Ärzte bei meiner „Appendizitis“ alles richtig befunden hatten, denn der Gedanke, nur eine Lebensmittelvergiftung gehabt zu haben und nach Hause zu dürfen, wärmte mir das Herz. Doch trotzdem ging es kurz darauf nicht nach Hause, sondern auf den OP-Tisch.
„Hallo“, sagte ich leise, aber unbeirrt.
„Grüß dich!“, erwiderten die fünf Menschen um mich herum.
„Darf ich mich mit irgendwas bedecken?“, fragte ich leise und verstört.
„Denkst du etwa, du bist die einzige, die wir heute unbedeckt sehen?“, fragte einer und kicherte irgendwie so besonders „ärztlich“.
„Nein, das glaube ich nicht. Ich friere einfach“, erwiderte ich und wurde rot.
Nachdem ich es mir auf dem kalten und harten Operationstisch mit festgebundenen Beinen und Armen gemütlich gemacht hatte, fiel mir ein, dass ich zum ersten Mal in meinem 21-Jahre langen Leben eine Operation hatte! „Und hoffentlich die letzte…”,fügte der Chirurg hinzu. „Aber wirklich”, antwortete ich.
Der Leser wäre wahrscheinlich wenig begeistert, wenn ich die ganzen Kleinigkeiten meiner 40 Minuten langen Operation beschriebe, aber eine Sache sage ich unbedingt: das war ungeheuer spannend! Nach einer kurzen Überlegung fiel mir ein, dass alles spannend ist, was einem zum ersten Mal passiert. Auf diese Weise erwachte der Philosoph in mir. Man kann sich natürlich fragen: „Was hat sie denn da, bitte schön, so Spannendes gesehen?” Dazu gleich ein Beispiel: wenn man ohne Kleidung und mit geöffnetem Bauch vor dem Chirurgen und seinen Assistenten liegt, während des Ganzen noch mit all den Menschen redet und deren Gesprächen und Witzen zuhört – ist das spannend? Und ob! Ach ja, es sei außerdem hinzugefügt, dass die bösen „Onkel-Doktoren“ unbedingt die Gelegenheit nutzen, einen auch noch auszulachen: mich zum Beispiel aus dem Grund, dass ich mich bei allen gleich nach der Operation völlig unerwartet freundlich bedankt habe. (Das sind offensichtlich noch die Spuren meines Au-Pair-Jahres in Deutschland, als ich meinem Betreuungskind immer beibringen wollte, sich öfter zu bedanken.)
Kurz nach dem “schmerzhaften Prozess” brachte man mich ins Zimmer mit wiedermal Weiß-Blau-Grün-Grau getünchten Wänden und sechs Betten. Einige dieser Betten waren eindeutig noch aus der Sowjetzeit. „Als ich dein Bett sah, dachte ich, dass es total unbequem sein müsste. Außerdem kann man es nicht richtig bewegen und einstellen”, erzählte mir später eine andere deutsche Freundin, die mich besuchen kam.
Typisch für die Krankenhäuser in den ehemaligen Sowjetrepubliken ist, eine sogenannte Mittagsruhe zwischen 14 und 16 Uhr einzulegen, während dieser die Patienten eigentlich schlafen sollten. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir die Mittagsruhe ernst nahmen. Diese Ruhepause war die Zeit, in der keine Besucher kommen durften. So verbrachten ich und meine Bettnachbarinnen die zwei Stunden sehr nützlich: man las viel, man sprach viel, man lachte viel, obwohl in meinem Fall das Lachen noch furchtbar wehtat. Abends sangen wir wunderschöne kirgisische und internationale Lieder. Kaum einer redete über Krankheiten, obwohl wir ja alle mittendrin waren. „Die Atmosphäre bei euch im Zimmer war sehr locker und gemütlich…“, bemerkte einmal eine Freundin und ehemalige Krankenhaus-Besucherin von mir. Sie brachte mir einmal echtes deutsches Bio-Brot mit und das, nachdem ich drei Tage lang komplett auf Brot verzichten musste! Wie gut es allen schmeckte…!
„Gut, dass du nicht für sehr lange Zeit hier bleibst! Das Zimmer macht ein wenig depressiv“, meinte eine andere gute Freundin. Erst am Ende meines Aufenthalts in dem medizinischen „Erholungslager“ begann ich, mir mein Zimmer richtig anzuschauen und merkte, dass sie Recht hatte: Wir hatten wirklich nicht genug Sonnenlicht…