„Das Beste oder Nichts“ – „The best or nothing“. So lautet das Motto von Mercedes-Benz in zwei Weltsprachen. Ich habe es jedes Jahr während der Frühlings-, Sommer- und Herbstferien beim Deutschlernen in einem Spezialwerkzeuglager gehört. Für mich war es eine neue, fremde und zugleich faszinierende Welt, von der ich träumte – eine Welt mit luxuriösen Autos aus Deutschland, aus einer Stadt mit dem schönen Namen Sindelfingen. Als neunjähriger Bub habe ich natürlich nicht geahnt, dass ich eines Tages tatsächlich nach Deutschland reisen und das weltberühmte Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart sowie das größte Daimler-Werk in Sindelfingen besichtigen würde.

Für viele Schulabsolventen ist es nicht einfach, den richtigen Beruf zu wählen. Es fehlen oft nötige Informationen oder Beziehungen zum Betrieb, wo man später seine Lehre anfängt. Für mich dagegen war es dank meinem Vater Kappasajle (Alexander) Ospanow leicht, die richtige Wahl zu treffen. In den Sommerferien 1994 nahm er mich zum ersten Mal in die Mercedes-Benz-Werkstatt mit.

Die ersten Spatenstiche für die neue Werkstatt

Kapapasajle Ospanow
Kappasajle Ospanow

Im Jahr 1993 hatte mein Vater bei einer türkischen Firma eine gut dotierte Stelle als Führungskraft. Als er erfuhr, dass die Daimler-Benz AG einen Generalvertreter in Almaty hat, erkundigte er sich und reichte dort seine Bewerbung auf eine Stelle ein. Nach einem Vorstellungsgespräch bekam er eine Zusage. Mein Vater wurde so zum zweiten Mitarbeiter in der zukünftigen Kfz-Werkstatt von „Blue Star of Kazakhstan“ in der Stassow-Straße 102. Das Unternehmen war im Vorjahr gegründet worden und hatte alle Rechte als Generalvertreter des Konzerns Daimler-Benz AG in Kasachstan.

Der erste Mitarbeiter der Werkstatt war sein Kollege aus Deutschland Hans-Dieter Schreiner. Die Werkstatt existierte noch nicht, mein Vater und Herr Schreiner haben die ersten Monate als Bauarbeiter gearbeitet. Danach, als die Werkstattausrüstung und viele Geräte angeliefert wurden, haben beide aktiv bei der Einrichtung der Werkstatt mit weiteren Mitarbeitern mitgewirkt. Es waren harte Wochen und Monate für meinen Vater, aber er hat fest daran geglaubt, dass seine Entscheidung richtig war, und dass die Arbeit bei Mercedes ganz große Zukunftsperspektiven hat – nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für seine beiden Söhne.

„Sprachpraktikum“ im Spezialwerkzeuglager

Als die Werkstatt feierlich eröffnet wurde, durfte mein Vater seinen Beruf als Kfz-Mechaniker ausüben. Aber zuerst musste er natürlich viel lernen. Deutsche Autos in Almaty waren kein Novum mehr, doch fachliche und qualifizierte Reparaturen waren Mangelware auf dem Automarkt. Dank seiner technischen Grundausbildung, die er erfolgreich am Technikum für Verkehrswesen in Tomsk absolviert hatte, und seiner langjährigen Erfahrung war es für ihn relativ einfach, in die unbekannte Welt der deutschen Automobiltechnik einzutauchen. Aufgrund seiner fachlichen Kompetenz und einer Bewertung von Herrn Schreiner hat mein Vater nach kurzer Zeit auch die Leitung des Spezialwerkzeuglagers übernommen.

Das Spezialwerkzeuglager war für mich die erste „Stelle“, wo ich mein „Sprachpraktikum“ anfing. Aber natürlich war das nicht offiziell. Als Neunjähriger durfte ich noch kein Praktikum absolvieren, geschweige denn arbeiten. Mein Vater hat mich oft zur Arbeit mitgenommen, und so kam ich nicht nur mit Benzin-, Diesel- und Ölgerüchen in Berührung, sondern auch mit den Fachwörtern, die ich noch nie in meinem Leben gehört hatte.

Deutsch als Lieblingsfach

Meine Hauptaufgabe in dieser Zeit war es, mindestens fünf unbekannte Fachwörter pro Tag auswendig zu lernen. In der Schule war Deutsch mein Lieblingsfach, und es machte mir immer Spaß, meine Deutschkenntnisse zu erweitern und zu verbessern. Fachwörter wie Viskolüfterkupplungabzieher, Kombiinstrumenteinbauwerkzeug, Tankgeberschlüssel-Satz, Bremsflüssigkeitsstandmesser, die viele Deutschlernende erschrecken dürften, konnte ich mir schnell auswendig merken.

Meine zweite Aufgabe war es, zu verstehen, in welchen Reparaturabläufen diese Spezialwerkzeuge gebraucht werden. Am Ende der Schulferien musste ich bei meinem ältesten Bruder Evgenij, der nach seinem Militärdienst seine Lehre zum Kfz-Mechaniker bei Blue Star angefangen hatte, eine Prüfung ablegen. Da er immer streng zu mir war, musste ich sehr gut vorbereitet sein, um eine gute Note zu bekommen. Ich hatte in dieser Zeit auch Unterstützung von Herrn Paul Esabalidis, dem Werkstattleiter, der mich mit seiner Offenheit, Freundlichkeit und Kompetenz sehr beeindruckt hat. „Hallo, kleiner Ospanow, gut machst du das! Mach weiter so!“, sagte er mir jedes Mal auf Deutsch, wenn ich bei meinem Sprachpraktikum war.

Als Kollege und Fachmann geschätzt

Mein Vater war und bleibt für mich ein Vorbild. Er wurde von all seinen Kollegen als Mensch und Fachmann sehr geschätzt. Als er 1998 sehr schwer erkrankte und seinem Beruf, den er so liebte, nicht mehr nachgehen konnte, haben seine Kollegen ihn besucht und moralisch unterstützt. Er hat sein Interesse an dem Beruf weiter behalten und fragte jedes Mal Evgenij und später mich nach dem aktuellen Stand der Dinge. Im Sommer 2004 war seine Freude riesig, als er erfuhr, dass Evgenij und ich nach Deutschland zu einem unserer Lieferanten reisen durften. Es war sein unerfüllter Lebenstraum gewesen, einmal nach Deutschland zu reisen, um alle dort lebenden Verwandten mütterlicherseits sowie den Geburtsort der deutschen Automobilindustrie in Stuttgart und das Daimler-Werk in Sindelfingen zu besuchen.

Ich erzählte meinem Vater regelmäßig über meine beruflichen Schritte, Erfolge sowie Niederlagen. Als 15-jähriger hatte ich einen Nebenjob bei der Firma „PERFECT“, und seit 2005 arbeitete ich als Hilfskraft in der IT-Abteilung bei der Firma „MEGA MOTORS“. Beide Unternehmen sind freie Pkw-Werkstätten, spezialisiert auf die Reparatur von Mercedes-Benz-Fahrzeugen. Bei meinem letzten und aktuellen Arbeitgeber „MEGA MOTORS“ habe ich verschiedene Stationen durchlaufen. Wie mein Vater habe ich als Bauarbeiter angefangen, dann weitergemacht als Lehrling zum Kfz-Mechaniker, danach als Mitarbeiter eines Ersatzteillagers und einschließlich als Ersatzteilemanager und IT-Administrator.

Die Wege des Herrn sind unergründlich

Vor acht Jahren wurde ich von der Geschäftsführung von „MEGA MOTORS“ zum Teamleiter des MB-LAB (Mercedes-Benz Labor) befördert, mit fachlicher und personeller Verantwortung für fünf Mitarbeiter. MB-LAB ist eine Tochter von „MEGA MOTORS“ und bietet ihren Kunden professionelle Dienstleistungen im Bereich der Kfz-Mechatronik an. Nach mehr als 20-jähriger Beschäftigung in der Kfz-Werkstatt habe ich meine Deutschkenntnisse nicht nur erweitert, sondern auch gemäß den technischen Anforderungen meines Berufes vertieft. Den Grundbaustein für meinen beruflichen Erfolg hat mein Vater gelegt, als er mich zum ersten Mal zur Mercedes-Benz-Werkstatt mitgenommen hat.

Im November 2009 starb mein Vater aufgrund seiner schweren Erkrankung. Alles, was er meinem Bruder Evgenij und mir beigebracht und übermittelt hat, lebt weiter. Ich bin jetzt 36 Jahre alt und habe meine eigene Familie. Meinen Vater, dem ich für alles von ganzem Herzen dankbar bin, vermisse ich immer noch. Die Wege des Herrn sind unergründlich. Wer weiß, vielleicht wird eines Tages mein kleiner Sohn Emir in die Fußstapfen seines Großvaters treten. Das würde mich natürlich freuen und stolz machen.

Valentin Ospanow

Beim Schreiben dieses Artikels war mir mein lieber Onkel Max Ospanow behilflich, bei dem ich mich von ganzem Herzen für seine unschätzbare Hilfe, große Unterstützung und die detaillierten Erinnerungen an meinen Vater bedanken möchte.
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