Elli Unruh, 1987 in Georgijewka (Kasachstan) geboren, wuchs in Süddeutschland auf. Nach ihrem Studium zur Bibliothekarin arbeitet sie im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Am 1. September 2025 erschien ihr erster Roman im Berliner Transit Buchverlag. Für die Fertigstellung erhielt sie eine Förderung der Kunststiftung Baden-Württemberg sowie des Förderkreises für Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Baden-Württemberg. Sie lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.
Liebe Elli, du bist in Kasachstan geboren. In welchem Alter bist du nach Deutschland gekommen und hast du aktuell noch Bezug zu diesem Land? Vielleicht über Freunde oder Verwandtschaft?
Meine Eltern sind kurz vor meinem ersten Geburtstag ausgewandert. Ich habe also, im Gegensatz zu meinen älteren Geschwistern, keine Erinnerungen. Mit der Ankunft in Deutschland schien das Kapitel „Kasachstan“ zudem abgeschlossen. Weder haben wir Verwandte dort, noch gab es in meiner Familie den Wunsch, einmal auf Besuch zurückzukehren; zumindest habe ich diesen Wunsch nie wahrgenommen. Gerade als Kind schien es mir, als gäbe es diesen Ort gar nicht mehr, als sei er in der Vergangenheit verschwunden. Erst in den letzten Jahren haben Verwandte, meist die Generation meiner Eltern, ihre Urlaube dort verbracht. Sie schickten Fotos von den Straßen, vom Kanal, von den Häusern, die sie teilweise noch selbst gebaut haben und von den Gräbern ihrer Eltern. Und spätestens jetzt, da das Buch erschienen ist, habe auch ich unbedingt vor, diese Reise einmal anzutreten.
Zählst du dich selbst zur sogenannten „mitgebrachten Generation“? Manche jungen Menschen deiner Generation empfinden es als ungerecht, dass sie damals keine Wahl hatten bzw. von ihren Eltern nicht gefragt wurden, ob sie ausreisen möchten. Wenn du es selbst hättest entscheiden können, wärest du nach Deutschland mitgekommen?
Überhaupt nicht. Das liegt sicher daran, dass ich keine Erinnerungen an diese Entscheidungssituation habe. Doch selbst wenn ich mich daran erinnern könnte, so glaube ich doch, wäre mir der Gedanke an eine Ausreise kaum gekommen. Die Erzählungen der Familie waren immer geprägt von einer Dringlichkeit, einer Eindeutigkeit, was die Entscheidung zur Auswanderung betrifft. Und die Erzählungen rund um die Ankunft in Deutschland haben kaum irgendetwas weniger als das, was ich die Aura einer vollendeten Heldenreise nennen würde.
Wann hast du beschlossen, Literatur zu machen? Gab es einen Schlüsselmoment: ein Buch, Personen oder sonstige Ereignisse?
Von einem Schlüsselmoment kann ich nicht berichten. Ich habe immer viel gelesen. Agatha Christie und Jane Austen. Als Jugendliche war ich ständig in der kleinen Mediathek in unserem Ort, dort fand ich Robert Musil und Ljudmila Ulizkaja und bekam eine Ahnung davon, was Literatur kann: Die Erhabenheit guter Sätze, die Fixierung einer komplexen Angelegenheit in Buchstaben, eine besondere Ordnung der Gedanken, wie ein Text die tiefere Bedeutung einer vorgeblich belanglosen Angelegenheit freilegen kann. Aber wozu das alles? Wenn jede Bedeutung, jede Erkenntnis letztlich doch machtlos ist gegen das Voranschreiten der Zeit? Trotz meiner Zweifel las ich weiter, aus Neugier und reiner Freude und begriff Literatur als Boje, als Momente kurzer Rast. Ich fing an, allerlei Begebenheiten zu dokumentieren und erfuhr dadurch eine gewisse Befreiung: das Schreiben als einen friedvollen Zustand zwischen Trotz und Hoffnung. Wenn ich die Zeit schon nicht aufhalten kann, dann will ich mich wenigstens nicht der Sprachlosigkeit darüber schuldig machen.
Wie kamst du zum Thema deines ersten Romans „Fische im Trüben“? Was ist die Message des Buches? Ist es ein Bekanntmachen mit dem Schicksal der Deutschen in der UdSSR?
In Widerrede zur Sage vom lyrischen Ich kann ich kaum von einer Sache schreiben, die mich nicht auch selbst etwas angeht. Gleichzeitig erschienen mir die eigene Lebensrealität, meine eigenen Erfahrungen nie bedeutsam genug, um sie in einem fiktionalen Text zu verarbeiten – bis ich verstanden habe, dass meine Zurückhaltung unmittelbar mit der Geschichte meiner Vorfahren zusammenhängt. So wie meine Eltern die Geschichte ihrer Auswanderung im Vergleich zur Leiderfahrung ihrer Eltern für wenig bedeutsam halten, halte ich meine eigenen Geschichtchen vor dem Hintergrund wiederum ihrer Auswanderung, ihrer Lebensleistung, für kaum berichtenswert. Wenn ich also irgendwann über ein hypothetisches Ich schreiben möchte, muss ich mich zuerst mit der Frage auseinandersetzen, was dieses Ich daran hindert, sich zu zeigen.
Natürlich ist es schön, wenn mein Buch Aufklärungsarbeit leistet. Ich glaube aber nicht, dass sich die Geschichte um das Schicksal der Russlanddeutschen hinter einem Appell verstecken muss oder dass sie die Rechtfertigung, ein Appell zu sein, benötigt. Gerade im Austausch mit anderen habe ich erfahren, wie vielfältig die Familiengeschichten sind, wie unterschiedlich die Sichtweisen und Konflikte. Dieses Milieu ist nicht mehr und nicht weniger erzählenswert als andere Milieus, denn am Ende geht es um Menschen, die auf die ein oder andere Weise miteinander zu tun haben. Ich habe im Roman bewusst auf weitschweifende historische Erläuterungen verzichtet und freue mich, wenn der Text jemanden zur selbständigen Recherche bewegt. Aber abgesehen davon ist die Wahl des Themas – wie gesagt – weniger Appell, sondern mehr der Ausdruck eines Anspruchs: wenn es nach mir geht, darf sich mittlerweile gern rumgesprochen haben, wer wird sind und woher wir kommen.
Wie gestaltete sich die Wahl der Hauptprotagonisten bzw. ihrer Perspektiven? Warum sind es die drei (Hedi, Krocha und Onkel Hein) geworden?
Es sind tatsächlich drei Perspektiven, die jeweils eine Generation vertreten und zwar für die, die unmittelbar vom stalinistischen Horror betroffen waren; für jene, denen der Schreck unerklärlich in den Knochen sitzt; und letztlich für die jüngste Generation, die beinahe unbelastet sein könnte, wenn die Umstände es zuließen. So kann ich Parallelen und Unterschiede, verschiedene Wahrnehmungsebenen und ihre jeweiligen Implikationen abbilden.
Ein Zitat von John Irving in seinem Roman „Zirkuskind“ hat mir einst zu denken gegeben, deshalb bringe ich es oft in Interviews: „Ein Einwanderer bleibt Zeit seines Lebens ein Einwanderer.“ Stimmst du dem zu? Und spielt dein Background bei der Themenauswahl für deine Geschichten eine Rolle?
Falls ich als Einwanderin gelte, muss ich dem Satz wohl zustimmen. Ich selbst empfinde es aber nicht so. Wenn ich bisweilen eine gewisse Fremdheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft empfunden haben mag, mittlerweile hat sie sich nivelliert. Oder – vielleicht nicht nivelliert, aber ich habe eine klarere Vorstellung davon bekommen, worin diese Empfindung begründet sein könnte. Um es flapsig zu sagen: Bücherwürmer verleiten immer auch ein wenig zu Spott; jemand der schreibt, wirkt wohl immer auch ein bisschen kurios. Insofern ist meine Fremdheitserfahrung vielschichtig – und fruchtbar.
Für etwa die Generation meiner Eltern ist die Annahme eines ewigen Fremdelns bestimmt nicht verkehrt. Sie kommen gerade erst in das Alter, in dem die deutsche Lebenserfahrung die ihrer sowjetischen Lebenshälfte überwiegt. Natürlich gibt es da Fremdheitsgefühle, die jemand wie ich gar nicht nachempfinden kann. Doch letztlich stellt sich hier die Frage, ob es überhaupt irgendwo einen Ort gäbe, an dem sie nicht die Eingewanderten wären. Die Geschichte der deutschen Minderheit im Russischen Reich und später in der Sowjetunion ist ja von ständigen Wanderungsbewegungen geprägt. Die hat es ja – soweit ich es zumindest von der spezifischen Gruppe der Mennoniten weiß – auch schon in der Zeit vor der Auswanderung ins Russische Reich gegeben.
Du unterstützt seit diesem Jahr den Literaturkreis der Deutschen aus Russland als Fördermitglied. Wie bist du auf unseren Verein aufmerksam geworden und wie hast du die Tätigkeit des Vereins wahrgenommen?
Ich sah die Ausschreibung zur Teilnahme an dem Almanach und arbeitete gerade an einem Kurztext, der stark russlanddeutsch codiert ist. Da ich davon ausgehen konnte, dass der Text im Rahmen eines Almanachs für postsowjetische Literatur keine historische Einordnung benötigt, war es nur folgerichtig ihn einzureichen. Die Menge an Textbeiträgen zeigt, dass offensichtlich ein großes Mitteilungsbedürfnis besteht. Wenn der Verein diesem Bedürfnis mit Workshops, Veranstaltungen und Lesungen entgegenkommt, ist es sicherlich eine gute Sache und bringt womöglich erstmals die Erkenntnis, dass es nichts gibt, wofür sich jemand mit russlanddeutschem Hintergrund schämen muss. Ganz im Gegenteil dürfen wir die eigene Geschichte als Bereicherung begreifen, als einen Expertenstatus für einen Teil europäischer Geschichte, von dem die Mehrheitsgesellschaft höchstens eine Ahnung hat.
Insofern kann der Verein das Selbstbewusstsein stärken und interessierte
Leser und Schriftsteller zusammenbringen.
Seit vielen Jahren klagen unsere Autorinnen und Autoren darüber, dass sie im deutschen Literaturbetrieb kaum sichtbar sind. Laut einigen Experten sind die von ihnen bzw. uns oft präferierten Themen nicht mehr zeitgemäß. Was denkst du darüber?
Woher kommt die Annahme, die Themen seien nicht oder nicht mehr zeitgemäß? Sind sie eher existenzieller Natur, während man mit zeitgemäßen Themen, vorgeblichen Trendthemen große Zielgruppen erschließen kann? Vielleicht erscheint das Thema vielen als zu komplex und es riecht ihnen gleichzeitig zu sehr nach Nische. Man hat mal etwas von der Wolga gehört, fühlt sich eigentlich informiert und sieht sich dann mit sehr spezifischen und teils „ausgedeuteten“ Familiengeschichten konfrontiert, die sich – bei aller Ähnlichkeit – immer auch voneinander unterscheiden und immer nur behelfsweise unter eine einzige Überschrift bringen lassen.
Das Exposé zu schreiben war die reinste Qual. Mir wurde an anderer Stelle gesagt: „Kasachstan der Siebzigerjahre? Wer will denn sowas lesen?“ Und ich habe diese Aussage nicht als abwertend begriffen, sondern als Ausdruck echter Ratlosigkeit. Verleger haben ja einen wirtschaftlichen Druck und müssen schon wagemutig sein, sich eines Themas anzunehmen, welches, falls es überhaupt Leser findet, vielleicht auch kontrovers aufgenommen wird. Wie positioniert man sich als Erbe der Nazidiktatur zu einer deutschen Leidensgeschichte?
Meinst du, dass die sogenannte russlanddeutsche Literatur bzw. unsere Autorinnen und Autoren ein eigenes Literaturbüro (-haus) benötigen, um ihre Sichtbarkeit zu verbessern? Wenn ja, welche Projekte sollte so eine Institution dringend angehen?
Ein Literaturbüro mit entsprechender Finanzierung würde den Druck der wirtschaftlichen Verwertbarkeit gewiss mildern. Wenn ein Verlag eine offizielle und anerkannte Institution im Hintergrund weiß, die durch Förderung und Sichtbarmachung unterstützt und so den Nachweis einer bisher vernachlässigten Zielgruppe liefert, kann das der Stärkung der Szene nur dienlich sein.
Ich danke dir für das Gespräch!
Das Interview führte Artur Rosenstern.
Das Buch kann online unter www.transit-verlag.de bestellt werden.
Das BKDR lädt am 12. Dezember um 19 Uhr zu einem Literatursalon mit Elli Unruh ein. Mehr Infos hier.






















