Die Steppe ist an diesem Februarmorgen mit Schnee bedeckt, eine weiße Mondlandschaft, auf welcher nur vereinzelt karge Sträucher durch die Schneedecke stoßen. In der Ferne ist ein kahler Gebirgszug zu erkennen, schroffer Fels hebt sich gegen den Himmel ab. In dieser Gegend, wo der Nordwesten der autonomen uigurischen Region Xinjiang auf Kasachstan trifft, liegt der Punkt mit der weitesten Entfernung zu allen Küsten der eurasischen Landmasse – der am tiefsten im Binnenland gelegene Ort der Welt.

Dieses geographische Kuriosum wird als der „Eurasische Pol der Unzugänglichkeit“ bezeichnet. Doch entgegen dem eher abschreckend klingenden Namen wird die Landschaft, in welcher er sich befindet, immer zugänglicher.

Denn nur knapp hundert Kilometer südlich des Pols befindet sich seit 2005 das sogenannte International Center for Border Cooperation (ICBC) in Khorgos, seit 2017 mit dem Status einer Freihandelszone, mit Binnenhafen und Infrastruktur für über 100.000 Menschen. Das Projekt kam vor allem als eines der ambitioniertesten Vorhaben der chinesischen „Neuen Seidenstraße“ in die Schlagzeilen. Es sollte nicht nur Umschlagplatz und Durchgangspunkt von Waren auf dem langen Weg von China nach Europa sein, sondern als visumsfreies Sondergebiet gewissermaßen ein Großhandel für all jene werden, welche günstig chinesische Güter kaufen wollten, ohne nach China selbst einreisen zu müssen.

Mitte der 2010er Jahre überschlugen sich Medien im In- und Ausland mit extravaganten Beschreibungen der Chancen, welche die Freihandelszone bringen würde. Viel zitiert wurde die von einem der Vorsitzenden der ICBC-Betreibergesellschaft ausgegebene Losung, in Khorgos ein „neues Dubai“ errichten zu wollen.

Der Boom fand jedoch im Frühjahr 2020 ein jähes Ende. Die chinesische Zero-Covid-Politik mit ihren Grenzschließungen sparte auch das ICBC nicht aus. Seitdem ist es um das „neue Dubai“ eher still geworden. Ob und wann die Freihandelszone ihre Tore wieder öffnen wird, ist bisweilen schwer herauszufinden. Internetauftritte sind verwaist, Reiseberichte in einschlägigen Foren spärlich.

Nachdem die chinesische Regierung einige Restriktionen Ende 2022 wieder gelockert und die Grenzen wieder geöffnet hatte, kursierten schnell erste Meldungen über die baldige Rückkehr des Handels nach Khorgos. Der einfachste Weg, dem auf den Grund zu gehen, bestand für mich darin, einfach mal in Almaty loszufahren und nachzusehen. Praktischerweise besteht vom Bahnhof Almaty-1 eine Bahnverbindung bis nach Altynkol wenige Kilometer vor der Grenze. Von dort aus, so hoffte ich, würde es sicher möglich sein, sich bis zum Übergang nach Khorgos durchzuschlagen.

Kleine Reisegesellschaft

Dass die großen Boomzeiten wohl noch nicht ganz wiedergekehrt sind, wird allerdings schon am Bahnsteig in Almaty klar. Der Zug selbst besteht nur aus der Lokomotive und einem einzelnen Waggon, und selbst der wird heute nicht einmal annähernd voll. Nach zwei Stunden Fahrt verbleiben als einzige Passagiere einige kasachische Eisenbahner, welche die Strecke hoch verlegt werden, zwei chinesische Touristen auf dem Rückweg nach Guangzhou, und ich.

Vom Bahnhof Altynkol geht es weiter Richtung Grenzübergang.

Zumindest kann man so gut miteinander ins Gespräch kommen, und einiges über das Reisen in Zentralasien erfahren. Denn mein Gesprächspartner, ein chinesischer Hostelbetreiber, welcher sich der leichteren Aussprache halber den russischen Namen Wassilij gegeben hat, ist darin ein absoluter Experte. Nachdem er zwei Jahre in Moskau verbracht und dort ein wenig Russisch gelernt hatte, war er anschließend durch so ziemlich jedes Land zwischen dort und Guangzhou gereist, was er auch mit zahlreichen Anekdoten und Fotos aus dem Iran, der Ukraine, Georgien, Indien, Laos und sogar Nordkorea belegen kann. Dieses Mal haben seine Frau und er jedoch einen entspannten gemeinsamen Kurztrip nach Almaty in Angriff genommen.

Nicht nur ich, sondern auch die Eisenbahner, die sich inzwischen dazugesellt haben, sind von solcher Reiselust beeindruckt. Sie haben viele Fragen zum Reisen: Was der Umtauschkurs für ausländische Währungen sei, ob es schwierig sei, einen Auslandspass zu bekommen, und wie viel Zeit man denn aus Almaty nach Guangzhou, oder aus Berlin nach Almaty bräuchte. Auch die wirtschaftliche Situation in Deutschland interessiert die Eisenbahner. „Was ist in Deutschland der Mindestlohn?“, will einer wissen. „Reicht das für eine gute Wohnung?“ „Gibt es in Deutschland Korruption?“ Auf meine Fragen, ob irgendwer etwas über die aktuelle Lage im ICBC gehört habe, weiß aber auch hier noch niemand eine Antwort.

Tauschgeschäfte im Zug

Dafür stellt sich nach Auskunft der Eisenbahner schnell heraus, dass die Weiterreise ab Altynkol nicht so einfach sein wird, wie gedacht. Hier ein Taxi oder einen Bus zu finden, kann schwierig sein – vor allem jetzt noch, wo es kaum Reisende gibt.

Das würde nicht nur für mich, sondern auch für meine beiden Mitreisenden zum Problem werden. Für die weitere Anbindung nach China muss man den einige Kilometer von der Bahnstation entfernten Grenzübergang Nur Scholy passieren. Ein Shuttle oder reguläre Taxis gibt es nicht, aber auch hier kann die kasachische Eisenbahn, genauer gesagt Freunde ihrer Mitarbeiter, weiterhelfen.

Wenig los am Grenzübergang Nur Scholy

Mit ein paar Anrufen organisiert uns die Mannschaft einen Bekannten aus der Gegend, der sich bereit erklärt, uns für ein paar tausend Tenge weiterzufahren. Hier ist Wassilijs Verhandlungsgeschick gefragt, der leider nur noch wenig kasachisches Geld übrighat. Wie das kam, ist eine weitere von seinen Anekdoten. Seine Frau und er waren zum Abschluss der Reise in Almaty schick essen gegangen und hatten sich Fisch bestellt. Wie viel es kosten kann, Fisch in ein Land ohne Meereszugang zu importieren, stellte sich dann hingegen erst mit der Rechnung heraus. „War aber wirklich sehr guter Fisch!“, betont er. Zum Glück gelingt es Wassilij, sich zusätzlich mit seiner kasachischen SIM-Karte, auf der noch Guthaben ist, weiter durchzutauschen.

Auf einsamer Fahrt

Unser Fahrer erwartet uns schon am Bahnhof. Eigentlich ist er Verkäufer in einer der nahegelegenen Siedlungen. Aber wenn sich eine Gelegenheit bietet wie heute, dann ist der Autoschlüssel schnell zur Hand. Auf der Abfahrt aus Altynkol wird einem erst so richtig bewusst, wie weit weg man hier doch ist. Die Infrastruktur in der grenznahen Region ist zwar sehr gut ausgebaut, jedoch noch so gut wie kaum benutzt. Links und rechts der neuen mehrspurigen Straße erstreckt sich die Steppe, ab und zu vielleicht eine Neubausiedlung für die Familien der Eisenbahner und Grenzwachen. Man kann erahnen, dass hier für weit größeren Verkehr als aktuell vorhanden gebaut wurde, denn wie schon im Zug sind wir hier auf weiten Strecken als einzige unterwegs. Erst am Grenzübergang Nur Scholy treffen wir auf weitere Reisende, überwiegend LKW-Fahrer, die hier auf Zollformalitäten warten.

Hier trennen sich die Wege Wassilijs, seiner Frau und mir. Unser Fahrer verzichtet schlussendlich sogar darauf, ihm noch seine SIM-Karte abzunehmen, was Wassilij ein breites Lächeln zum Abschied entlockt. Für mich geht es allein weiter zum Übergang in das ICBC Khorgos, noch einmal knapp 20 Kilometer nördlich von hier.

Je weiter wir in Richtung Khorgos fahren, desto deutlicher kündigt sich die geplante Großstadt an. Am Horizont zeichnet sich schon immer deutlicher die Skyline der neuen Stadt ab. Eine Metropole schält sich aus dem Nebel. Vorher muss jedoch noch der zentrale Zugang zur Freihandelszone passiert werden. Dazu fahren wir nun – als einzige – die Zugangsstraße hinunter.

Der Weg bleibt versperrt

„Niemand ist hier“ wundert sich mein Fahrer laut. Er hält am ersten Kontrollpunkt, doch keiner scheint sich groß für uns zu interessieren. Der Posten ist unbesetzt, der Schlagbaum weit offen. „Normalerweise sind hier Zöllner“ meint er, doch heute sind hier nur wir und ein paar Überwachungskameras. Wir entschließen uns, weiter vorzufahren. Irgendwer wird uns schon Bescheid geben, wenn es nicht weitergeht. Das geschieht schließlich am letzten Kontrollpunkt vor China, wo ein Gitter die Weiterfahrt versperrt. Dieser Posten ist sogar bemannt: Eine kasachische Grenzwache erklärt uns durch das Gitter, das die Zone weiterhin geschlossen ist. Es ist nach all der Online-Recherche und dem Durchfragen im Zug tatsächlich die erste klare Aussage, die ich hierzu bekomme. Heißt zusammengefasst: Nein, das ICBC Khorgos ist noch nicht wieder offen.

Wie lange das noch so bleibt, ist hingegen unklar. Die chinesischen Grenzen sind seit Dezember 2022 wieder offen. Es bleibt abzuwarten, wann dies auch in Khorgos Wirkung zeigt, und der rege Grenzhandel zwischen Kasachstan und China wieder vollen Schwung aufnimmt. Sobald es so weit ist, wird die noch einsame Gegend an der Grenze wohl nicht mehr so ruhig sein wie heute.

Daniel Adrian Styczynski

Teilen mit:

Все самое актуальное, важное и интересное - в Телеграм-канале «Немцы Казахстана». Будь в курсе событий! https://t.me/daz_asia