Heute sind Angstzustände fast allgegenwärtig. Es scheint, sie seien zur neuen Normalität geworden. Doch sie zeigen sich bei verschiedenen Völkern unterschiedlich. Besonders interessant ist der Vergleich der psychologischen Einstellungen von Kasachstanern und Europäern – Menschen, die in verschiedenen sozialen und kulturellen Umgebungen aufgewachsen sind, heute aber im selben Informationsraum leben. Warum erleben Kasachstaner öfter Ängste, worin liegen die Unterschiede in der Stressreaktion, und welchen Einfluss hat die Geopolitik?

Viele Kasachstaner, besonders jene, die der Generation 30+ angehören, wuchsen in einer Atmosphäre der Instabilität auf. Der Zerfall der UdSSR, die Mangelwirtschaft, die radikalen Reformen der 90er Jahre, die von oben verordnete „Schocktherapie“, die jedoch nur zu Lebensmittelmarken und Gutscheinen führte: All das prägte ein weit verbreitetes, geradezu kollektives Unterbewusstsein, wonach jede Stabilität nur vorübergehend ist.

Auch heute, wenn jemand Arbeit, Wohnung und ein halbwegs stabiles Einkommen hat, lebt dennoch im Inneren das Gefühl: „Jederzeit kann alles zusammenbrechen.“ Dieses Gefühl wird durch die Erinnerungen der Eltern sowie durch aktuelle regionale Ereignisse genährt.

In Europa, besonders in Ländern wie Deutschland, Schweden, Frankreich, ist Stabilität in der Gesellschaftsstruktur verankert. Von Kindheit an gewöhnen sich Europäer daran, dass beispielsweise die medizinische Versorgung stets gewährleistet ist, Arbeitslosenhilfe gezahlt wird sowie ein funktionierendes Rentensystem existiert. Dies schafft ein inneres Vertrauen in die Welt. Selbst in Krisen gerät man nicht in Panik, sondern man weiß: das System wird funktionieren. Kasachstaner hingegen glauben oft nicht an das System – sie wollen sich weder auf die Polizei noch auf die Gerichtsbarkeit verlassen oder auf das Vorhandensein einer ausreichenden medizinischen Versorgung. Deshalb ist ihnen die Angst eine Art Überlebensstrategie: „Wenn ich immer wachsam bin, dann habe ich bessere Chancen zu überleben.“

Der Blick in die ängstliche Zukunft

Der Umzug nach Europa ist eine weitere interessante Facette. Viele Kasachstaner, die nach Deutschland oder in andere europäische Länder gezogen sind, erkennen plötzlich: die Angst verschwindet nicht, manchmal wird sie sogar noch stärker. Aber warum? Weil sie hier zum inneren Konflikt wird: Man lebt in einem stabilen Land, aber das innere Programm sagt immer noch: „Sei auf der Hut.“ Während die Einheimischen ruhig leben, fühlt sich der Migrant oft „fremd“ in seiner neuen Heimat.

Kasachstaner blicken oft ängstlich in die Zukunft: „Was passiert, wenn ich meinen Job verliere? Wenn ich krank werde? Wenn Krieg ausbricht?“ Europäer planen eher: „Wenn ich krank werde, dann gibt es immer noch meine Krankenversicherung. Wenn ich den Job verliere, dann finde ich eben einen anderen, und wenn das nicht klappt, so gibt es ja immer noch die Arbeitsämter.“

Der Unterschied liegt nicht darin, dass die einen naiv und die anderen realistisch sind, sondern in ihren Erfahrungen. Europäer sind es gewohnt, dass hinter ihnen eine Absicherung steht. Kasachstaner aber glauben zu wissen, dass die Rettung der Ertrinkenden immer nur die Sache der Ertrinkenden selbst ist.

Die Familie als Stütze

Nachrichten über Kriege, Konflikte, Sanktionen und Proteste erreichen uns heute nicht mehr über Zeitungen, sondern direkt über unsere Smartphones. Jugendliche in Kasachstan lesen über die Mobilmachung in Russland, über verschiedene Massaker im Nahen Osten, über Wirtschaftskrisen und projizieren diese Ängste oft auf sich selbst.

Auch die Europäer fühlen Angst, besonders nach Ereignissen wie Covid oder wegen der Situation in der Ukraine. Aber sie haben die historische Erfahrung mit dem Wiederaufbau nach Kriegen, eine humanistische Kultur und ein ausgebautes Unterstützungssystem.
Für uns Kasachstaner aber ist jede Krise wie ein Schlag, der den Glauben an das lichte Morgen schwinden lässt.

In der Kultur Kasachstans ist die Familie nicht nur eine gesellschaftliche Einheit, sondern auch die soziale Hauptstütze. In schwierigen Zeiten wenden sich die Einwohner Kasachstans öfter an Verwandte als an den Staat oder an externe Hilfsdienste. Das schafft starke emotionale Bindungen, schürt aber auch zusätzliche Ängste: denn zu viel hängt von den Angehörigen ab.

Europäer verlassen sich mehr auf Institutionen: Krankenhäuser, Krisenzentren, Rentenfonds. Das entlastet die Familie, schwächt aber auch das Gefühl kollektiver Unterstützung. Viele ältere Europäer fühlen sich trotz hohem Lebensstandard einsam.

Von den sozialen Medien geblendet

Im Ausland sind diese Unterschiede besonders sichtbar. Kasachstaner suchen „ihre Leute“, gründen Diaspora, veranstalten gemeinsame Mahlzeiten, auch wenn sie in einem Wohnheim leben. Das hilft beim Überleben, erschwert aber Integration. Europäer passen sich meist individuell an die neue Umgebung an, was auch nicht immer leicht ist.

Jugendliche in Kasachstan und in Europa leben im Informationsfluss, nehmen ihn aber unterschiedlich wahr. Die kasachstanische Jugend erlebt eine paradoxe Situation: Einerseits sehen sie das glamouröse Leben von Bloggern und Auswanderern, andererseits spüren sie den Druck der Realität, der ein einfaches „Ausbrechen“ verhindert.

Das erzeugt Angst: „Ich komme nicht hinterher“, „Ich lebe falsch“, „Alle haben schon etwas erreicht“. Europäische Jugendliche erleben ähnliche Gefühle, aber das Bildungssystem und die soziale Unterstützung mildern diesen Druck teilweise ab.

Zudem verfügen Europäer im Allgemeinen über höhere digitale Kompetenz und kritisches Denken, was ihnen hilft, Informationen zu filtern. In Kasachstan hingegen verstärken Fake-News, Verschwörungstheorien und „Motivations“-Posts oft Angst und Apathie.

Nationaler Charakter und Humor als Schutz

Eine interessante Besonderheit der Kasachstaner ist die Fähigkeit, selbst in absurdesten Situationen zu scherzen. Humor, Satire, Selbstironie sind nicht nur Unterhaltung, sondern zugleich ein psychologischer Überlebensmechanismus. In jeder Instabilität findet ein Kasachstaner einen Grund für einen Witz oder für ein Meme.

Europäer haben auch Humor, der aber oft individueller und weniger kollektiv ist. Bei uns kann ein Witz in einem Telegram-Chat geboren werden und binnen eines Tages ganz Kasachstan erreichen. Dieses kollektive Lachen ist eine Art zu sagen: „Wir schaffen das. Irgendwie schaffen wir es wieder.“

Diese Haltung hilft, das seelische Gleichgewicht zu bewahren, selbst wenn alles zusammenbricht. Und das ist vielleicht eine der stärksten Seiten des kasachstanischen Volkes.

Die Balance der Angst

Obwohl wir ein gemeinsames Informationsfeld und vernetzte Weltprozesse haben, bleiben wir unterschiedlich – in Wahrnehmung, Reaktion und Angstniveau. Das macht niemanden besser oder schlechter. Das Verständnis dieser Unterschiede hilft, Dialoge aufzubauen und achtsamer mit uns selbst umzugehen.

Kasachstaner sollten lernen, nicht nur auszuhalten, sondern auch gut für sich zu sorgen – ohne Schuldgefühle. Europäer sollten den Kontakt zur Realität nicht verlieren und sich nicht von einer scheinbaren Stabilität täuschen lassen. Und beide sollten wissen: Kultur und Psyche brauchen Balance. Angst ist kein Feind, sondern ein Signal. Wichtig ist, es zu hören und nicht in Panik zu verfallen.

Wenn ein Volk den Zerfall eines Imperiums, die Reformen und drei Währungskrisen überleben und dann auch noch darüber scherzen kann, dann hat es etwas sehr Belastbares. Wenn man andererseits Jahrzehnte lang die Stabilität, das Vertrauen in staatliche Institutionen und Respekt vor persönlichen Grenzen bewahren kann, so verdient auch das Respekt. Vielleicht gehört ja die Zukunft denen, die es lernen, beides zu verbinden.

Ruslan Mussirep

Teilen mit:

Hinterlasse eine Antwort

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein