Wer Kasachstans größte Stadt Almaty besucht, dem mag so manch ein Graffiti oder Mural ins Auge fallen. Vom Zentrum bis zu den Außenbezirken schmücken sie zahlreiche Wände. Dabei erzählen sie nicht nur die kasachische, sondern auch regionale Geschichte, übermitteln politische Botschaften und zeigen Missstände auf.
Unterwegs auf den Straßen Almatys – Woher kommen die Murals?
Kreative Ausdrucksformen im öffentlichen Raum eröffnen den Zugang zu Kunst für alle und fördern zugleich einen lebendigen, konstruktiven Dialog in der Gesellschaft. Meinungs- und Kunstfreiheit sind essenzielle Säulen dieses Diskurses. Künstler:innen machen mit ihren Werken auf Missstände aufmerksam, üben Kritik und klären auf. Dieses Recht blieb Kasachstan unter sowjetischer Herrschaft verwehrt. Die kommunistische Ideologie zeigte sich nicht nur in Politik, sie setzte sich ab den 1930er Jahren auch in der Kunst durch.
Als Teil des „Sozialistischen Realismus“ teilten die Kunstwerke vier Merkmale: Die Abbildungen mussten nicht nur realistisch sein, sie sollten auch typische Darstellungen aus dem Alltag der Menschen darstellen. Ihr proletarischer Charakter war von grundlegender Bedeutung. Das heißt, die Werke sollten für Arbeiter:innen nachvollziehbar und relevant sein. Außerdem galt Parteilichkeit als Voraussetzung – die Kunst sollte das deklarierte Staatsziel einer klassenlosen Gesellschaft uneingeschränkt teilen. Kritik oder Pessimismus hatten in dieser Kunstform keinen Platz. Der Sozialistische Realismus war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die offizielle Ästhetik der Sowjetunion.
National in Form, sozialistisch im Inhalt
Ab den 1960er Jahren prägten Monumentalist:innen die sowjetische Kunst. Sie wurden von Russland nach Kasachstan geschickt, um lokale Künstler:innen in der Herstellung der Monumentalkunstwerke auszubilden. Die großflächigen Werke wurden meist im öffentlichen Raum zum Beispiel an Schulen, Regierungsgebäuden, Häuserblöcken oder Fabriken platziert, um sozialistische Propaganda zu verbreiten. Bis zu 5% des Budgets für neue öffentliche Gebäude wurden in künstlerische Elemente investiert. Man fand monumentale Kunstwerke in fünf Formaten: als Mosaik, Reliefskulptur, Sgraffiti (eine Kunstform, bei der durch Kratzen einer Oberfläche eine darunterliegende Schicht mit einer kontrastierenden Farbe zum Vorschein gebracht wird), Buntglas und Wandmalerei.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden im Zuge der Privatisierung von Gebäuden und des gewandelten Identitätsverständnisses innerhalb der Gesellschaft viele Kunstwerke zerstört. Inzwischen gibt es wieder Bestreben, die monumentalen Kunstwerke aus vergangenen Zeiten zu erhalten. So dokumentiert beispielsweise der Amerikaner Dennis Keen mit seiner Organisation Monumental Almaty die monumentale Kunst der Sowjetzeit in Almaty.
Moderne Murals: von der Untergrund- zur Popkultur
Während in anderen Teilen der Welt Graffiti-Street Art als globales Phänomen ab den 1960er bis 1970er Jahren an Popularität gewann, wurden moderne Wandmalereien in Kasachstan als Vandalismus abgetan und lange kritisch beäugt. Erst 2008 wurde im Rahmen des Kunstfestivals ArtBat Fest das erste zeitgenössische Wandgemälde in Almaty installiert. Seitdem öffnet sich die kasachische Gesellschaft für die Murals. Auch die Stadtverwaltung begrüßt die Straßenkunst zunehmend. Meterhohe, bunte Kunstwerke zieren zahlreiche Hauswände in Almaty – es lohnt sich daher, genauer hinzusehen.
Eines der bekanntesten Wandgemälde mit dem Namen „Vater der Äpfel“ befindet sich in Almaty in der Kurmangazy Straße 33. Es entstand im Rahmen des Artbat Fests 2013. Name und Motiv des Werkes spiegeln die Geschichte Almatys wider: Die Stadt hieß früher Alma-Ata, was allgemein als Vater der Äpfel übersetzt wird. Denn in der Region um Almaty war jene Wildsorte beheimatet, aus der der heutige, weltweit in vielen Sorten angebaute Apfel stammt. Die Frucht hat daher für die Stadt eine ganz besondere Bedeutung und lässt sich als Motiv überall wiederfinden.
In der Puschkinstraße 31 unweit des Grünen Basars kann man ein Werk von Yerzhan Tanayev, auch bekannt als Tanai, und Zakir Ali von der Tigrohaud Crew entdecken. Das Kollektiv bedient sich bei seinen Werken üblicherweise verschiedener Stile, von denen auch hier einige wiederzufinden sind. So ergibt sich oft ein Zusammenspiel aus Fotorealismus, traditionellen kasachischen Mustern und geometrischen Formen. Tanayev und Ali studierten in Almaty am College für dekorative und angewandte Künste und beschlossen 2007 am Snickers Urbania Festival, welches in mehreren großen Städten in der Ukraine und Russland ausgetragen wurde, teilzunehmen. Im Fokus des Festivals standen verschiedene Formen der Straßenkunst, Skating, Break Dance und vieles mehr. Das Festival markierte den Einstieg des Kollektivs in die Street Art Szene. Heute hat es sich längst einen Namen gemacht und gehört zu den alten Hasen unter den Street Art Künstler:innen Kasachstans: Ihre Werke schmücken Hauswände in Aqtau, Aqtöbe, Almaty, Qaragandy, Astana, aber auch in Russland, Indien und der Türkei. Nicht selten sucht sich das Kollektiv bekannte kasachische Persönlichkeiten als Motiv aus wie den Philosophen Al-Farabi, dessen Porträt in der Al-Farabi Avenue 49 in Almaty zu finden ist.
Murals kommen, Murals gehen
Obwohl die Straßenkunst die Herzen der Menschen erobert hat und auch zunehmend Anerkennung durch die Stadtverwaltung erlangt, sind nicht alle Werke von Dauer. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Dass dies nicht immer im Sinne der Menschen und Kunstschaffenden ist, zeigt das Beispiel des beliebten Murals von Pasha Kas in der Mukagali Makataev Straße 61. Dieses wurde Anfang des Jahres übermalt. Nach Aussage des Künstlers habe der Eigentümer dem Drängen der Stadtverwaltung nachgegeben und daher das Mural entfernt. Es zeigte die Hauptfigur Gav aus der sowjetischen Zeichentrickfilmreihe „Ein Kätzchen namens Gav“ zusammen mit einem Zitat aus jenem Film: „Lasst uns gemeinsam Angst haben“. Nach Aussage des Künstlers sollten die Menschen dadurch aufgerufen werden, zueinander freundlich zu sein und zusammenzuhalten. Eine Reaktion auf das Entfernen seines Werkes ließ nicht lange auf sich warten. So erschien kurz nach dem Verschwinden des Kätzchens folgendes Zitat auf derselben Hauswand: „Ihr habt das Kätzchen übermalt, aber wann übermalt ihr den Smog über der Stadt?“ Der Künstler spielte damit auf seine bereits über Social Media geäußerte Kritik an, die Verwaltung beschäftige sich eher mit dem Übermalen von Murals als mit Almatys hoher Luftverschmutzung.
Pasha Kas ist bekannt für seine kontroversen, sehr politischen Wandmalereien. Mit seinen Werken versucht er auf soziale Missstände aufmerksam zu machen und polarisiert damit häufig. Dabei kopiert er gern bereits bekannte Figuren oder Werke wie das Kätzchen Gav oder „Der Schrei“ von Edward Munch und arbeitet eigene Elemente ein. Nicht selten erleiden seine Werke ein ähnliches Schicksal wie das Kätzchen Gav. In der Mukagali Makataev Straße 61 ist auch das zweite Mural mittlerweile übermalt worden, doch es wird sicherlich nicht lange dauern, bis Pasha Kas sich anderswo in der Stadt mit einem neuen Werk zeigt.