Zum zweiten Mal fanden an den Ufern des Issyk-Kul-Sees in Kirgisistan traditionelle Nomadenwettkämpfe statt. Mit über 50 Teilnehmerländern sind die Spiele zum größten Sportereignis des Landes geworden und haben eine Welle von Begeisterung ausgelöst. In verschiedensten Wettkämpfen konnten die Zuschauer das kulturelle Erbe des nomadischen Zentralasiens bestaunen. Auch unser Autor verbrachte eine Woche an den Spielfeldrändern der Arena in Tschopon-Ata, in einem nomadischen Jurtendorf und mischte sich unter die internationalen Teilnehmer.
„Kirgistan, Kirgistan!“ dröhnt es aus dem Publikum, während sich der rote Reiter mit der Rückennummer Dreizehn samt dem toten Schaf in das gegnerische Tor katapultiert. Er rafft sich auf, das Schaf am halb abgetrennten Bein in der Hand, und reckt die Faust in den Himmel. „Kirgisistan 10, Kasachstan 3“, verkündet der Stadionsprecher. Die Zuschauer reißt es von den Sitzen, Winken, Klatschen. Ein rotes Fahnenmeer. Der Trainer der Blauen, des kasachischen Teams, gestikuliert aufgeregt am Spielfeldrand. Doch den Sieg scheint der Heimmannschaft kaum noch jemand nehmen zu können.
Gladiatoren auf Pferden
Was aussieht wie ein Filmdreh für die zentralasiatische Variante von dem Serienliebling „Game of Thrones“ ist Nationalsport in Kirgisistan und nennt sich dort Kok Boru, zu Deutsch „grauer Wolf“. Auch in den anderen zentralasiatischen Ländern – dort bekannt unter Synonymen wie Buskaschi und Ulak Tartisch – hat der Nomadensport bis heute Tradition. Die ersten Spiele fanden lange vor Christi Geburt statt. Heute wird meist bei größeren Festen gespielt. Reiche Familien spendieren ihren Gästen ein Spiel. Als Preis winkt ein Fernseher oder ein Auto.
Der Gedanke erinnert ein wenig an Gladiatorenkämpfe. Denn traditionell spielt jeder gegen jeden. Die Anzahl der Spieler variiert. Ziel ist es den toten Ziegenbock bzw. das tote Schafsbock – bis zu 40 Kilogramm schwer – in einer der Steintonnen, zu versenken. Erlaubt ist dabei fast alles. Auch deswegen ist das Spiel besonders für europäische Augen nicht leicht zu ertragen. Immer wieder stürzen Reiter, verletzen sich, Pferde versinken im Sand. Wer mit ein paar Schrammen davonkommt, kann froh sein.
Bei offiziellen Wettkämpfen wird in Teams gespielt. Zwölf Reiter pro Mannschaft, jeweils vier von ihnen dürfen gleichzeitig auf dem Feld sein. Die Tonnen sind größer und mit Gummi ausgelegt, sodass man bei einem „Dunk“ sanft landet. Sogar Schiedsrichter gibt es. Nurbek, der eine Reiseagentur in Bischkek besitzt, steht am Ende des Spielfelds, im Schatten des einzigen Baumes. Umringt von Fotografen und Journalisten, die der brennenden Mittagssonne entfliehen, feuert er sein Team an. „Kok Boru ist für uns wie American Football für die Amerikaner“, sagt er, „die Kirgisen lieben diesen Sport“.
Das Endergebnis lautet Kirgisistan 15, Kasachstan 3. Unter tosendem Applaus ziehen die roten Reiter in die Ehrenrunde. Das Kok-Boru-Finale zwischen den beiden Nachbarländern ist das Highlight der diesjährigen World Nomad Games. Eine Woche lang tragen Athleten aus über fünfzig Ländern nomadische Sportwettkämpfe gegeneinander aus. Dazu gehören Pferdesportarten, Bogenwettkämpfe, nomadische Kampfsportarten, intellektuelle Brettspiele und vieles mehr.
2012 gab es erste Überlegungen zu den Spielen – angestoßen vom kirgisischen Präsidenten Atambajew. Ziel ist die Wiederbelebung und Erhaltung des historischen und kulturellen Erbes der Nomadenwelt. Mit der Unterstützung Aserbaidschans, Kasachstans und der Türkei fanden zwei Jahre später die ersten Nomadenwettkämpfe in Tscholpon-Ata, am Ufer des Issyk-Kul-Sees in Kirgisistan statt. Was damals noch im Kleinen begann, ist heute – zwei Jahre später – zum größten Sportevent Kirgisistans geworden. Mehrere Millionen Dollar wurden investiert, eine Arena und eine Sporthalle gebaut, mitfinanziert von Sponsoren wie Gazprom oder Turkish Airlines.
Berliner in Lederhosen
„Das ist der Wahnsinn“, schwärmt Frank Pogrzeba, der extra aus Deutschland für die World Nomad Games angereist ist, „so etwas habe ich noch nicht erlebt“. Der 48-jährige Berliner tritt im Bogenschießen an. Zehn Athleten aus Deutschland sind insgesamt angereist. Er und Klaus-Uwe Zimmermann stehen vor dem Hippodrom in Tscholpon-Ata, wo in wenigen Stunden die Eröffnungsfeier stattfinden wird. Die beiden tragen Lederhosen und lassen sich mit ein paar Kasachinnen fotografieren. Möglichst alle Teilnehmer sollen in ihrer traditionellen Kleidung kommen. „Ich dachte erst, das ist Quatsch mit den Lederhosen, aber hier passt das her. Und es weiß ja niemand, dass ich eigentlich Berliner bin“, Pogrzeba lacht. Um die beiden herum tummeln sich Mongolen in ihren traditionellen Nomadenkleidern, Kosaken und Teilnehmer aus Katar in arabischen Gewändern.
Als der kirgisische Präsident Almasbek Atambajew die Bühne im Hippodrom betritt, nähert sich die zweistündige Eröffnungsshow dem Ende. Hunderte von Freiwilligen, Tänzern, Sängern und Performern hatten zuvor in einer beeindruckenden Vorführung die Geschichte des Nomadentums dargestellt und die internationalen Teilnehmer begrüßt. „In unserem modernen Zeitalter vergisst die Menschheit leicht ihre Wurzeln“, betont Atambajew zu Beginn seiner Rede. Die Veranstaltung sei eine Rückkehr zu den Wurzeln, um den eigenen Kindern und der ganzen Welt den Reichtum der nomadischen Kultur zu zeigen.
Ein Heimspiel für die Nomadenvölker
Eine Woche lang konnten Zuschauer und Teilnehmer die nomadische Kultur in all ihrer Vielfalt kennenlernen. Die Wettkämpfe fanden nicht nur im Hippodrom und in der Sporthalle statt. Im Hotel Aurora traten die Teilnehmer in den intellektuellen Brettspielen Mangala und Togus Korgool gegeneinander an.
Im Kyrtschyn-Tal, einer Hochebene etwa eine Stunde von Tscholpon-Ata entfernt, wurde ein nomadisches Dorf mit über 200 Jurten errichtet. Hier, auf 2000 Metern, fanden neben offiziellen Sportwettkämpfen wie Bogenschießen und Falkenjagd auch traditionelle Kostüm– und Gesangwettbewerbe statt.
Am Ende hatte Kirgisistan in den meisten Disziplinen die Nase vorne. Mit insgesamt 79 Medaillen lag der Gastgeber weit vor dem zweitplatzierten Turkmenistan und dem Dritten Kasachstan. Eine deutsche Medaille blieb aus. Doch spätestens in zwei Jahren werden die Spiele wieder in Kirgisistan stattfinden. Nächstes Jahr könnte die Türkei Gastgeber werden. „Ich komme auf jeden Fall wieder“, sagt Pogrzeba nach seinem letzten Schießen, „das ist der schönste Austragungsort, an dem ich bis jetzt war“.