Das erste Gymnasium in Werny, dem heutigen Almaty, hat viele berühmte Persönlichkeiten hervorgebracht. Nicht wenige spielten später bei der Eroberung der Steppengebiete durch die Bolschewiki eine Rolle.

Die Universität Sorbonne gehört zu Paris, der Stadt der Liebe am Fluss Seine. Ebenso wie der Eiffelturm, die Basilika Sacré-Cœur de Montmartre oder die Kathedrale Notre-Dame de Paris. Die Sorbonne ist die Bezeichnung für eine der ältesten Hochschulen der Welt, sowie der Name eines historischen Universitätsgebäudes im Zentrum des Studentenviertels Quartier Latin. Bereits seit 1250 werden an diesem Ort junge Menschen katholisch und in lateinischer Sprache erzogen. Nach einer Universitätsreform 1970 teilen sich heutzutage allerdings mehrere Hochschulen diesen altehrwürdigen Namen und das prestigeträchtige Hochschulgebäude im Pariser 5. Arrondissement.

Die ehemalige Soldatenfestung Werny im Generalgouvernement Turkestan im Russischen Kaiserreich kann bei weitem nicht auf eine solch lange Geschichte zurückblicken. Doch auch hier in Zentralasien hat die Bildung seit langer Zeit einen hohen Stellenwert. Nachdem der Festung 1867 das Stadtrecht verliehen wurde, war die Entwicklung hin zur Stadt nicht mehr aufzuhalten. Im Mai 1875 beschloss die Generalversammlung des Staatsrates nach Prüfung der Vorlage des Bildungsministeriums, im Generalgouvernement Turkestan eine dem Generalgouverneur unterstellte Direktion für Bildungsangelegenheiten einzurichten. Ebenfalls wurde beschlossen, zwei sogenannte Progymnasien, allgemeinbildende Schulen im Bildungssystem des Russischen Reichs, zu gründen – nämlich in den Städten Taschkent und Werny.

Gymnasium anfangs ohne eigenes Gebäude

Das Männergymnasium von Werny wurde als Mittelschule mit geisteswissenschaftlicher Ausrichtung 1876 eröffnet. Ab dem 1. Juli 1881 besaß die Schule den Status eines vollständigen klassischen Gymnasiums mit Unterricht in den Altertumssprachen Latein und Griechisch. Das Progymnasium war nun die größte Bildungseinrichtung der Stadt. 1883 beendete die erste Abschlussklasse ihre Ausbildung.

Ebenfalls kurz nach Eröffnung, im Jahr 1877, wurde innerhalb des Gymnasiums die Pension Werny, eine Art Wohnheim für die Schüler, gegründet. Kurz darauf lebten dort 42 Jungen, 22 mit russischer Nationalität, und 20, die zentralasiatischen Nationalitäten angehörten. Das Gymnasium selbst hatte zu dieser Zeit, im Gegensatz zur Pension, noch kein eigenes Gebäude. Der Unterricht fand in verschiedenen, extra angemieteten Räumlichkeiten in der Nähe statt. Das erste eigene Gebäude des Gymnasiums, ein repräsentativer, herrschaftlicher Steinbau, wurde zwischen 1884 und 1887 erbaut. Doch dieses Gebäude fiel bereits im selben Jahr, 1887, dem schweren Erdbeben von Werny zum Opfer, genauso wie die allermeisten anderen Gebäude der Stadt.

Stadt hat aus Erdbeben gelernt

Für den Wiederaufbau des Gebäudekomplexes des Gymnasiums und der Pension zeigte sich Paul Wasiljewitsch Gourdet verantwortlich, einer der prägendsten Baumeister der Stadt Werny jener Tage. 1895 konnte Gourdet das Hauptgebäude der Schule auf den Fundamenten des alten Steinbaus fertigstellen, allerdings nun in Holzbauweise. Die Architektur der Stadt Werny war nach dem verheerenden Erdbeben und dem Wiederaufbau der Häuser weit weniger glamourös und eher schlicht und bewusst niedrig gehalten. Die Baumeister waren sich allerdings der Erdbebengefahr nun bewusst und verwiesen auf die bessere Standfähigkeit der Holzkonstruktionen bei erneuten Erdbeben. Dies hat sich bewährt. Die Schäden in der Stadt bei einem erneuten Beben im Jahr 1910 fielen bei weitem weniger verheerend aus als 1887, und die Holzbauweise mancher Häuser prägt bis heute viele Ecken der Stadt.

Auch das neue Gebäude des Gymnasiums, welches inzwischen neben Jungen auch Mädchen aufnahm, hielt dem zweiten Erdbeben stand, genauso wie die neue Pension, die Architekt Paul Gourdet 1907 auf dem Territorium des Gymnasiums fertigstellte. 1905 betrug die Zahl der Schülerinnen und Schüler bereits 343. Viele berühmte Persönlichkeiten, darunter auch viele, die bei der Eroberung der Steppengebiete durch die Bolschewiken, bei der Installation der kommunistischen Macht in Zentralasien oder in der Politik der frühen Sowjetunion eine Rolle spielten, schlossen ihre erste Ausbildung an diesem Gymnasium ab, wie zum Beispiel Michail Frunze, Uraz Zhandosow oder Tokasch Bokin.

Neue Bestimmung für das Gymnasium nach der Oktoberrevolution

Doch mit der Oktoberrevolution 1917 änderte sich auch im Gymnasium von Werny vieles, genauso wie in allen Teilen des Imperiums. Sämtliche Gebäude und das gesamte Gelände wurden 1919 verstaatlicht. Für kurze Zeit befand sich das Stadtkomitee Werny des Russischen Kommunistischen Verbandes der Jugend darin. Anschließend war in den Räumlichkeiten des Gymnasiums das Kasachische Pädagogische Institut untergebracht, aus dem 1933 die Kasachische Staatliche Universität hervorging.

Im Gebäude der ehemaligen Pension kamen zuerst die öffentliche Regionalbibliothek Siebenstromland sowie das Regionalarchiv unter. Die Bibliothek, welche 1951 den Namen des russischen Volksdichters Puschkin erhielt, sollte allerdings schon bald in ein moderneres und komfortableres Gebäude umziehen. Der Bau des neuen Bibliotheksgebäudes und der Umzug des Bibliotheksbestandes zog sich hin bis ins Jahr 1971. Gleichzeitig wurde allerdings das alte Gebäude der Puschkin-Bibliothek nicht mehr benötigt. In das Gebäude der ehemaligen Pension von Werny zog ab 1971 die Staatliche Kinderbibliothek, die bereits 1951 gegründet und maßgeblich von dem Schriftsteller Sapargali Begalin mit aufgebaut wurde. Zu dieser Zeit betrug der Bestand rund 16.000 Bücher.

Fasziniert vom entbehrungsreichen Landleben

Sapargali Begalin wurde 1895 in einfachen Verhältnissen in Ostkasachstan geboren. Doch er war von einem großen Wissenshunger beseelt. Sein Onkel las ihm kasachische Volksmärchen und orientalische Sagen vor, später wurde er zum Schulabschluss nach Taschkent geschickt, von wo er auf seiner Rückkehr viele Bücher mitgebracht haben soll. Begalin sagte einmal selbst, sein glücklichster Tag sei gewesen, als sein Vater ihm aus der Stadt ein Buch mit den Erzählungen von Abai, dem großen kasachischen Volksdichter mitbrachte.

Sapargali Begalin nahm ab den 1930er Jahren auch selbst lokale Führungsposten im kommunistischen Machtapparat in Alma-Ata ein. Dadurch reiste er regelmäßig durch das kärgliche Land. Oft war er tief beeindruckt vom entbehrungsreichen Leben und der harten Arbeit, die gerade Kinder auf dem Land verrichten mussten. So beschloss er, da er bereits Gedichte und Kurzgeschichten schrieb, sich insbesondere der Kinderliteratur zu widmen. Zahllose Werke, die sich mit mystischen Figuren aus der kasachischen Volksliteratur, aber auch mit dem entbehrungsreichen Leben auf dem Land beschäftigen und speziell an Kinder gerichtet sind, folgten im Laufe seines Lebens. Sapargali Begalin starb am 10. März 1983 in Alma-Ata.

Die größte Kinderbibliothek Kasachstans

1996 wurde die Staatliche Kinderbibliothek Begalins zu seinen Ehren nach ihm benannt. Seitdem ist die Begalin-Bibliothek ein fester Bestandteil in der Kinder- und Jugendbildung der Stadt Almaty und des Landes. Sie ist heute mit einem Bestand von über 500.000 Werken und jährlich rund 15.000 Besuchern die größte Kinderbibliothek und das größte Archiv für Kinderliteratur Kasachstans. Regelmäßig werden Literaturfeste wie die „Nacht in der Bibliothek“ oder das „Sommerfestival des Lesens“ veranstaltet.

Seit einigen Jahren prangt über dem Eingang des ehemaligen, benachbarten Gymnasiums von Werny ein altehrwürdiger, französischer Name. In großen, goldenen Lettern ist dort jetzt „Sorbonne“ zu lesen. 2013 wurde auf Basis eines Memorandums das Französische Institut Sorbonne-Kasachstan gegründet. Seitdem macht es sich das Institut zur Aufgabe, Bachelor- und Masterstudiengänge auf europäischem Niveau in Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften, Recht und Management anzubieten.

Man könnte fast sagen, dass in diesem Stadtviertel, wo sich das Gymnasium und die Pension von Werny befinden, das Wissen und die Bildung seit jeher zuhause sind. Und auch der Hauch der vorrevolutionären Zeit bläst hier noch leicht durch die Gänge und Fenster der alten Holzgebäude. Davon abgesehen besitzt die Stadt Almaty heute zahlreiche hochrangige Bildungs- und Hochschulbildungsinstitutionen. Sie alle sind wohl etwas jünger und etwas weniger elitär als die Sorbonne in Paris. Aber das kann ja noch werden.

Philipp Dippl

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