Ein Menetekel deutsch-russischer Geschichte
Zum 82. Mal jährt sich der Tag, der das Leben von Millionen Menschen unwiderruflich zerstört hat. Am 28. August 1941 legitimierte das höchste gesetzgebende Organ der UdSSR, das Präsidium des Obersten Sowjets, eine geheime Entscheidung der kommunistischen Parteiführung mit Stalin an der Spitze. Demnach sollte die Autonome Republik der Wolgadeutschen zerschlagen und ihre Einwohner deutscher Herkunft, ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Verdienste und Parteizugehörigkeit, nach Sibirien und Zentralasien deportiert werden. Daraufhin folgten weitere Zwangsaussiedlungen der Deutschen aus ländlichen und städtischen Orten des europäischen Teils der UdSSR.
Das Territorium der wolgadeutschen Republik und andere historische Siedlungsgebiete wurden in die benachbarten russischen und ukrainischen Regionen eingegliedert. Für die Betroffenen bedeutete diese Zäsur neben dem Heimatverlust Ausplünderung ihres Besitzes, Zwangsarbeit, Hungersnot, Leid und für Zehntausende sogar den Tod. Auch nach dem Kriegsende fristeten diese Menschen ihr Leben jahrzehntelang als Personen minderen Rechts, erlitten zahlreiche Schikanen und Diskriminierungen sowie allgegenwärtige Germanophobie.
Das alles führte zum Auslöschen des nationalen Kulturerbes und dem Verlust der Muttersprache. Dieses Verbrechen des Stalin-Regimes geht nicht nur die davon unmittelbar Betroffenen an. Aus verschiedenen Gründen besitzt dieses Ereignis eine gesamtdeutsche Dimension.
Mangelnde Aufarbeitung hemmte Demokratisierung
Zum einen gibt es handfeste Indizien, dass die von den Machthabern gesammelten Erfahrungen bei der Deportation der deutschen Sowjetbürger als Blaupause bzw. als Freibrief für die spätere, wesentlich breiter angelegte Vertreibung und Aushebung zur Zwangsarbeit der Deutschen aus den ehemaligen östlichen Reichsgebieten sowie aus osteuropäischen Staaten diente. Diese mit der Billigung der Westalliierten durchgeführte sowjetische Aktion war ein erster und durchaus wichtiger Schritt auf dem Weg zur Legalisierung von Zwangsumsiedlungen und territorialen Verschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Zum anderen mangelt es bis heute an einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Kommunismus bzw. Stalinismus. Kommunistische Massenverbrechen in der Sowjetunion, u. a. an der deutschen Minderheit, werden sowohl in Russland als auch in Deutschland im Schulunterricht, in den medialen und gesamtgesellschaftlichen Debatten kaum thematisiert.
Nicht von ungefähr sehen viele russische Oppositionelle den Grund für das größte Versagen der demokratischen Bewegung der 1990er und späteren Jahre in der unzureichenden kritischen Abrechnung mit der kommunistischen Ideologie, im ausgebliebenen Bruch mit stalinschen Traditionen, Strukturen und Praktiken, in der Bagatellisierung kommunistischer Verbrechen sowie in der versäumten Auseinandersetzung mit bolschewistischen Tätern. Das sei ganz klar die Hauptursache für die fatale politische und gesellschaftliche Entwicklung in Russland, die letztendlich zum Angriffskrieg gegen die Ukraine geführt hat.
Intensivere Auseinandersetzung mit Stalinismus nötig
Die mangelhafte öffentliche Anerkennung der deutschen Opfer von Stalinismus und die geringe Wertschätzung ihrer Erinnerungskultur, die ausgebliebene „Täterforschung“ in Bezug auf GULAG und der weitverbreitete Unwille, sowjetische Verbrechen als solche zu benennen, führten dazu, dass viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland für die russische Propaganda und deren Geschichtsdeutung, für antidemokratisches und totalitäres Gedankengut anfällig wurden.
Der Jahrestag der Deportation von Russlanddeutschen mahnt die Politik und Wissenschaft wiederholt eindringlich, sich aufgrund des Schicksals dieser Bevölkerungsgruppe mit dem Phänomen „Verbrechen, Opfer und Täter im Stalinismus“ aus unterschiedlichen Perspektiven und intensiver als bisher zu befassen.