Der Sammelband „Hegels Erbe“ entwirft ein lesenswertes Panorama aktueller Hegeldeutungen
Wie alle Klassiker scheint sich auch Hegel gegen eine letztgültige Deutung zu sperren. Jeder neue Lichtstrahl, der in diesen Diamanten geleuchtet wird, bringt neue, spektrale Brechungen hervor. Seine Texte, deren Unverständlichkeit schon Marx beklagte, schillern immer wieder neu. Manchen schillern sie auch zu sehr: Bis in die Nachkriegszeit herrschte der Konsens, dass all die Lesearbeit vor allem philosophiehistorischen Zwecken diente. Erst im Neomarxismus interessierte man sich wieder aus systematischen Gründen für Hegel. Und heute? Ist seine spekulative Philosophie überhaupt noch anschlussfähig, sind seine Argumente noch zu gebrauchen?
Diese Frage spaltet die philosophische Landschaft in Deutschland auf einer sehr feinzackigen Linie in zwei Lager. Herbert Schnädelbach, ein glühender Verteidiger kantischer Klarheit und Stringenz, zog vor kurzem gegen die „ewige Hegelei“ an deutschen Hochschulen zu Felde. Hegel sei zwar ein Klassiker und als solcher zu lehren und zu verehren. Doch die Strukturprobleme dialektischer Logik seien eben letztlich nicht zu beheben. Auch mit viel hermeneutischem Wohlwollen lasse sich von Hegel heute nichts Systematisches lernen. Man dürfe Hegel nicht vergessen, aber man müsse „sein System historisieren“, so Schnädelbach. Denn Hegels spekulativer Ansatz, seine Teleologie und Kryptotheologie seien eben nicht zufällig von der sprachanalytischen Philosophie in das Regal der bloßen Philosophiegeschichte geräumt worden.
Erstaunlicherweise wurde Hegels Werk gerade von Vertretern der analytischen Philosophie in den letzten Jahren wieder zurück ins Regal der aktuellen Debatten geräumt. Erstaunlich ist dies deshalb, weil gerade Hegel für die analytische Philosophie lange Zeit als Paradebeispiel eines sprachverhexten Denkens galt, als ein Denken, dass sich von großen Worten davontragen lässt, logische Widersprüche einfach übergeht, im Begriffsrausch vom Boden des Überprüfbaren abhebt. Seit einigen Jahren hören wir nun hingegen, dass Hegels Denken sehr wohl auf dem Boden stehe – wenn auch auf „dem Kopf“, wie Hegel selbst an einer Stelle sagt. Denn Philosophie bedeutet eben, dass man die Dinge erst ganz anders sehen und mit dem Alltagsverständnis brechen muss, um sie dann auf höherer Ebene als Bestandteil einer Ordnung erkennen zu können.
Im Gegensatz zu Marx, der bekannt-lich empfahl, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, empfehlen uns die amerikanischen Hegel-Interpreten, die außergewöhnliche Perspektive des Kopfstandes beizubehalten. Ein neuer Sammelband über „Hegels Erbe“ gibt nun einen sehr guten und lesenswerten Überblick über dieses Panorama neuer Hegeldeutungen. Den Herausgebern ist es nämlich gelungen, fast alle bedeutenden Namen der gegenwärtigen Hegel-Debatte zu versammeln. Dadurch erhält der Leser einen sehr guten Einblick in die aktuellen Fragestellungen und Perspektiven. Eine kurze Einführung der Herausgeber zieht orientierende Linien in die Wanderdüne der Hegel-Diskussion.
Dass hier nicht historisierende Hegel-Forschung betrieben wird, zeigt die neue Lesart der Hegelschen Theorie des Selbstbewusstseins. Diese führt auch paradigmatisch vor, wie ein Klassiker zugleich kontraintuitiv, gegen den Common Sense argumentieren, und dennoch aktuell sein kann. Denn es liegt ja eine ziemliche Zumutung darin, wenn Hegel uns vorschlägt, Subjekte nicht als Vorraussetzungen von sozialer Interaktion, sondern als Ergebnis sozialer Praxis zu verstehen. Ein rationaler Akteur ist man nach Hegel deshalb, weil einem die Subjektstruktur des handelnden Entscheiders von anderen zugeschrieben wird. Wir erleben uns als rationale Akteure, weil andere uns zu solchen erklären und wir unsere Wünsche und Handlungen vor diesen rechtfertigen müssen. Dass wir uns als Handelnde begreifen, liegt daran, dass man uns fragen kann: „Warum hast du so gehandelt?“
Folglich gehen wir mit jeder Äußerung und jeder Handlung die Verpflichtung ein, Rechenschaft abzulegen, uns zu erklären. Dies bedeutet wiederum, wie Robert B. Pippin in seinem Beitrag erläutert, das unsere Vorstellung davon, was „rational“ ist, gar nicht präsozial gedacht werden kann. Ohne Vorschläge und Zumutungen der sozialen Welt hätten wir gar nichts, was wir wollen könnten, d.h. nichts Bestimmtes, das uns weiter definiert, indem wir es ergreifen oder tun.
Kant hatte den Menschen als ein vernunftbegabtes Wesen verstanden, das gerade dadurch ausgezeichnet ist, dass es sich der sozialen Welt entheben, sich auf das „Faktum der Vernunft“ besinnen und dabei einen Ruf nach Pflichterfüllung erfahren kann. In dieser Lehre vom Menschen, der mit einem Bein in der intelligiblen Welt steht und daher bei Entscheidungen allen „empirischen“ Stimulationen und Vorgaben den Rücken kehren soll, kann man den metaphysischen Rest des Kantianismus sehen. Erst sind wir Subjekte, dann gehen wir auf den Markt der Rechtfertigungen und schließen womöglich einen Vertrag. Dessen Moralität können wir jedoch auch im stillen Kämmerlein in bloßer Selbstreflexion auf die reine Vernunft prüfen. Allein unser Wille kann „gut“ geheißen werden, auf empirische Folgen dürfen wir in unserer Entscheidung nicht schielen, so Kant.
Bei Hegel wird diese Spaltung des Menschen zwischen eigentlicher Absicht („reinem Willen“) und bloß äußerlicher Tat aufgehoben: Du bist, was du objektiv tust und nicht, was du bloß subjektiv tun willst!, lautet Hegels Devise. Die Handlung ist also nicht mehr der bloß äußerliche Anhang eines an sich schon vollkommenen und womöglich guten Willens, wie bei Kant, sondern die Tat erweist den Willen erst als solchen.
Wie sich die Handlungen zu einer Geschichte verketten, die das Subjekt definiert, zeigt der inzwischen berühmte Robert B. Brandom in seinem Beitrag: Er verweist auf eine Stelle aus Hegels Phänomenologie des Geistes um zu zeigen, wie bei Hegel die Kette der Handlungen das Subjekt immer weiter ausdifferenziert und bestimmt. Hegel zeigt dies exemplarisch am Übergang vom bloßen lebenden Organismus zum freien Selbstbewusstsein, der sich in der Entscheidung zwischen Freiheit und Tod vollzieht: Wenn das Wesen bereit ist, lieber zu sterben als unfrei zu sein, wird es Selbstbewusstsein, denn es hat gezeigt, dass es eher bereit ist, die organische Fortexistenz zu opfern als die Selbstbeschreibung des freien Wesens aufzugeben.
Nicht immer muss es um Leben und Tod gehen. Doch die Struktur bleibt auch in weniger dramatischen Entscheidungen erhalten: Das Subjekt bestimmt, was es wirklich ist, indem es bestimmt, was es nicht wesentlich ist und was daher geopfert werden kann. Die eine Möglichkeit zu ergreifen, bedeutet immer die andere fallen zu lassen. Jedes Ergreifen bedeutet also immer auch das Opfern einer anderen Möglichkeit – und in den kniffligen Situationen bedeutet dies eben die Wahl zwischen einem großen Opfer oder dem Einräumen einer falschen Selbstbeschreibung. Der Samurai, so Brandoms Beispiel, der im Ernstfall des Ehrverlusts keinen Selbstmord begeht, war nie ein Samurai – er hat sich lediglich für einen gehalten, muss aber im Angesicht des Todes begreifen, dass er nie einer war. Brandom behauptet, dass sich diese Struktur auch in weniger spektakulären Fällen aufweisen lässt: Der saubere Beamte, der sich dann doch bestechen lässt, war nie der saubere Beamte, für den er gehalten wurde. Was wir tun, bestimmt nicht nur, wer wir sind, sondern auch, wer wir waren. Das einsame Bewusstsein des bloß inneren guten Gewissens ist gar kein Selbstbewusstsein. Erst wenn es sich durch die Tat der Prüfung durch ein anderes Selbstbewusstsein aussetzt, erweist es sich als ein solches. Musste Hegel erst aus Amerika zurückkommen, damit wir diese Thesen interessant finden konnten? Die Amerikaner haben uns einen aufregenden, einen provozierenden und glitzernden Hegel zurückgebracht.
Hegels Erbe, herausgegeben von Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep, Frankfurt am Main 2004, 434 Seiten, 15 Euro.