Als einen wichtigen Bestandteil der Zivilgesellschaft betrachtet Horst Küsters die Gewerkschaften. Er arbeitete viele Jahre beim Hauptvorstand einer großen deutschen Gewerkschaft und war für Tarifverhandlungen auf Bundesebene verantwortlich. Jetzt ist er als Gewerkschaftsexperte für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kasachstan tätig.

/Bild: privat. ‚Gewerkschaftsseminar in Almaty, Mai 2011.’/

Herr Küsters, Sie beraten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung Gewerkschaften in Kasachstan. Welche Erfahrungen haben Sie bei Ihrer Arbeit gemacht?

In meinen Seminaren in Kasachstan geht es in erster Linie um den Kollektivvertrag. Da hat sich nach einem Präsidentenerlass vor einigen Jahren viel zum Positiven verändert. m Arbeitsgesetzbuch sind unter anderem die Strukturen von Kollektivverträgen vorgeschrieben und zum anderen die Inhalte dieser Verträge aufgezeigt, die von den Vertragsparteien verhandelt werden können. Häufig ist es jedoch so, dass diese Kollektivverträge lediglich die Arbeitsgesetzgebung abschreiben, anstatt diese als Mindeststandard zu betrachten, der durch Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite überschritten werden kann. Viele Gewerkschaftsfunktionäre fordern eine Verbesserung dieser Mindeststandards durch den Kollektivvertrag. Zum Beispiel im Bereich der Entlohnung, der Sozialleistungen wie Kantinenessen, Kranken- und Unfallversicherungen, Prämien für Feiertage, Fahrtkostenerstattung, Urlaubsaufenthalte etc.

In Industriezweigen, in denen gut verdient wird, wie zum Beispiel in der Erdölindustrie erhalten die Mitarbeiter weiterreichende Sozialleistungen, in anderen Bereichen wie Chemie, Landwirtschaft, Handel oder Gastronomie ist die Situation schwieriger. Wie in anderen Ländern versuchen auch in Kasachstan die Gewerkschaften, ihre Forderungen in erster Linie auf dem Verhandlungswege durchzusetzen. Wenn dieses nicht zum Ziele führt, bleibt den Gewerkschaften als Ultima Ratio nur der Streik. Der Streik ist das stärkste legale Mittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen, er ist jedoch im kasachischen Arbeitsgesetzbuch recht kompliziert geregelt.

Inwieweit ist die heutige Situation der Gewerkschaften in Kasachstan auch durch ihre sowjetische Vergangenheit geprägt?

Aufgabe der sowjetischen Gewerkschaften war es in erster Linie, die Arbeiter zur sozialistischen Arbeitsdisziplin zu erziehen und darauf zu achten, dass die für die Werktätigen geltenden bestehenden Gesetze in den volkseigenen Unternehmen eingehalten wurden. Ferner waren ihnen umfangreiche Aufgaben auf dem sozialen und kulturellen Sektor übertragen, die dafür erforderlichen Mittel erhielten sie vom Betrieb. Das prägt natürlich die Generation, die diese Zeit bewusst erlebt hat. In Zeiten, in denen viele Menschen in unsicheren und prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten, kann ich mir gut vorstellen, dass manche Kolleginnen und Kollegen diese soziale Sicherheit vermissen. Ich arbeite seit 2006 mit kasachischen Gewerkschaften zusammen. Mein Eindruck: Die Gewerkschaften sind auf dem schwierigen Weg zu einer unabhängigen Interessenvertretung der arbeitenden Menschen in Kasachstan ein gutes Stück vorangekommen.

Die deutschen Gewerkschaften sind seit Langem unabhängig von politischen Parteien, Regierungen, Arbeitgebern und Konfessionen. Sie fi nanzieren sich alleine durch die Mitgliedsbeiträge und nehmen keine Mittel von anderer Seite zur Erfüllung ihrer Aufgabe, der Interessenvertretung von Lohnabhängigen, entgegen. Sie verstehen sich als Sozialpartner der Arbeitgeberseite, jedoch auch als Gegenmacht zur Interessenvertretung ihrer Mitglieder.

Generation Praktikum, Zeit- und Leiharbeit sowie Outsourcing: Bedeuten die modernen Arbeitsstrukturen das Ende für Gewerkschaften?

Denken Sie an die gegenwärtige Situation in Deutschland oder in Kasachstan?

Meine Frage bezieht sich auf Deutschland und auf Kasachstan.

Wir befi nden uns in Deutschland tatsächlich in einer schwierigen Situation. Seit rund fast drei Jahrzehnten beobachten wir den Übergang von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft, der mit einem technologischen Wandel und der Abwanderung deutscher Unternehmen ins Ausland einhergeht. Dadurch werden Arbeitsplätze vernichtet, das zieht Mitgliederverluste nach sich und schwächt die Position der Gewerkschaften. Wir müssen daher Mittel und Wege fi nden, wie wir die Angestellten und Arbeiter in den Dienstleistungssektoren dafür interessieren, sich uns anzuschließen, damit sie mit unserer Hilfe ihre Arbeitsbedingungen verbessern können. Wir sollten jedoch erst einmal die Begriff e klären, die Sie genannt haben, denn ich bin mir nicht sicher, ob wir diese mit Ausnahme des sogenannten Outsourcing auf Kasachstan übertragen können.

Unter Generation Praktikum verstehe ich, dass in Deutschland in den letzten Jahren insbesondere hoch qualifi zierte junge Menschen nach ihrer Ausbildung vermehrt als Praktikantinnen und Praktikanten eingestellt werden. Das hat für die Arbeitgeber den Vorteil, gegen geringes Entgelt hochwertige Arbeit zu erhalten. In vielen Fällen absolvieren die jungen Leute mehrere Praktika bis zur Einstellung, die dann meist auch noch befristet ist.

Von Zeit- oder Leiharbeit sprechen wir in Deutschland, wenn Arbeitnehmer von einer Leiharbeitsfi rma zeitlich begrenzt in den Betrieb eines Dritten ausgeliehen werden. Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten nicht den gleichen Lohn wie die Stammbelegschaft. Hier kämpfen wir über Tarifverträge mit den Leiharbeitsfi rmen für eine Gleichbehandlung. In der letzten Tarifrunde 2010 ist es erstmals gelungen, in einem Tarifvertrag mit der Stahlindustrie eine Gleichbezahlung von Stammbelegschaft und Leiharbeitnehmern zu vereinbaren. Da bleibt also noch viel zu tun, denn diese Frage ist gesetzlich noch nicht geregelt.

Unter Outsourcing beziehungsweise Auslagerung verstehen wir die Abgabe von Unternehmensaufgaben und -strukturen an Drittunternehmen, die dann diese Aufgaben im Unternehmen oder auch außerhalb erfüllen. Rechtlich gesehen sind das dann eigenständige Betriebe, die meistens nicht tarifgebunden sind. Das verbilligt die Arbeit für die Unternehmen, denn die Arbeitnehmer dieser Firmen bekommen im Durchschnitt fast 20 Prozent weniger Lohn als die Stammbelegschaft und erhalten auch nicht deren tarifvertragliche Leistungen. Darüber hinaus werden ganze Produktionsbereiche ins kostengünstigere Ausland oder in Tochtergesellschaften (Segmentierung von Unternehmen) ausgelagert, die nicht tarifgebunden sind. Wir versuchen daher verstärkt, Mitglieder in diesen Fremdfi rmen zu werben, um über Tarifverträge möglichst einheitliche Arbeitsbedingungen zu erreichen.

Warum sollte man Ihrer Meinung nach auch heute noch in eine Gewerkschaft eintreten?

Gewerkschaften verantworten nicht die Arbeitsmarktpolitik ihres Landes, das ist eine staatliche Aufgabe. Sie können aber als pressure group die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber der Politik und den Arbeitgebern vertreten. Im oben genannten Beispiel haben wir zum Beispiel die gleiche Bezahlung für Leih- und Stammarbeiter in der Stahlindustrie und – leider bisher nur in bestimmten Branchen – einen Mindestlohn erkämpft. Zurzeit läuft unsere Kampagne für einen allgemeinen gesetzlichen Mindest-Stundenlohn in Höhe von 8,50 Euro. Ferner regeln wir in Tarifverträgen die Arbeits- und Entlohungsbedingungen unserer Mitglieder, wir bieten einen kostenlosen anwaltlichen Rechtsschutz für Streitigkeiten unserer Mitglieder vor den Arbeits- und Sozialgerichten, führen Weiterbildungsmaßnahmen durch und zahlen im Streikfall eine Streikunterstützung, von der man leben kann. Das ist erforderlich, weil bei uns im Falle eines Streiks der Arbeitgeber nicht zur Lohnzahlungverpfl ichtet ist. Für die Zukunft rechne ich in Deutschland mit häufi geren Streiks, da die geschilderten Probleme nicht geringer werden. Das alles sind doch gute Argumente für den Beitritt zu einer Gewerkschaft, finden Sie nicht?

Und wenn Sie die Frage auf Kasachstan beziehen, dann bitte ich Sie, die kasachischen Gewerkschaften zu befragen. Denn die können diese besser beantworten als ich. Ich kann Sie nur auf die eingangs genannten Kollektivverträge verweisen, in denen die kasachischen Gewerkschaften in vielen Feldern die fi nanziellen und sozialen Leistungen für ihre Mitglieder verbessern.

Für beide Länder gilt jedoch: Durch den Beitritt zu einer Gewerkschaft stärkt man diese in ihrem Kampf um gerechte Löhne und sichere Arbeitsplätze. Je stärker die Gewerkschaften in den Unternehmen und Verwaltungen sind, je größer also die Solidarität aller Angestellten und Arbeiter ist, desto besser können Gewerkschaften ihre Aufgaben erfüllen – nämlich die Interessen ihrer Mitglieder umfassend vertreten.

Interview: Christine Karmann.

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Horst Küsters nahm nach Abschluss seines Studiums 1968 eine Tätigkeit im öff entlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland auf, trat im selben Jahr der Gewerkschaft ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr), bei und war lange Jahre ehrenamtlicher Gewerkschaftsfunktionär im Ortsvorstand einer Gewerkschaft in Köln, Mitarbeiter in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und Personalrat in seiner Dienststelle. Später wechselte er als hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär zur Gewerkschaft ÖTV (die das größte Gründungsmitglied der heutigen Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wurde) und war in der Hauptverwaltung seiner Gewerkschaft für bestimmte Tarifbereiche auf Bundesebene zuständig. Seit seinem Ausscheiden ist er in der internationalen gewerkschaftlichen Zusammenarbeit für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Südostasien und seit 2006 in Zentralasien tätig.

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