Der Bundestag hat dem Kanzler am 1. Juli das Misstrauen ausgesprochen. Damit ist der Weg zu Neuwahlen noch in diesem Herbst frei – wenn der Bundespräsident und die Verfassungsrichter nicht anders entscheiden
151 zu 296 – zwei Zahlen, die Gerhard Schröder so schnell nicht vergessen wird. 151-mal Ja, 296-mal Nein. Damit stand am vergangenen Freitag, den 1. Juli fest: Der Kanzler besitzt das Vertrauen des Bundestages nicht mehr. Dieses Resultat wäre ohne die 148 Enthaltungen nicht möglich gewesen. 148 Abgeordnete, die plötzlich nicht mehr auf die Frage antworten können, ob sie dem Mann vertrauen, dem sie bisher meist ohne Probleme gefolgt sind? Ein bisschen merkwürdig sieht das schon aus.
Was sich da am 1. Juli im Bundestag abspielte, ist selbst für die meisten Deutschen nur schwer zu verstehen. Warum waren Neuwahlen überhaupt nötig geworden? Schwer zu sagen. Manche reden von einem Publicity-Coup Schröders, um der Union die Freude über den Wahlsieg im Bundesland Nordrhein-Westfalen zu nehmen. Andere sagen, der Kanzler sei seinen Job leid, wolle sich aber die Schmach des Rücktritts ersparen. Richtig ist: Nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kann die rot-grüne Bundesregierung keine größeren Gesetzesvorhaben mehr auf den Weg bringen. Denn dazu braucht sie die Zustimmung des Bundesrates. Doch dort hat die Union die Mehrheit, die sie faktisch nutzt, um das Regieren unmöglich zu machen. Die Republik ist blockiert.
Deshalb wohl hat der Kanzler sich zu Neuwahlen entschlossen. Seine Begründung: „Geben wir den Menschen die Wahl und die Freiheit, selbst zu entscheiden, welchen Weg unser Land gehen soll.“ Seine Wiederwahl würde zwar nichts an den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat ändern. Den neuen Regierungsauftrag des Wählers könnten die CDU-Ministerpräsidenten jedoch nicht weiter ignorieren und müssten sich dem bestätigten SPD-Kanzler beugen.
Ein Problem gab es jedoch für Schröder: Die deutsche Verfassung erlaubt Neuwahlen nur unter eng begrenzten Bedingungen. Eine Möglichkeit wäre der Rücktritt des Kanzlers. Doch dieser Weg war Schröder verschlossen, wollte er sich nicht als Kandidat für den folgenden Wahlkampf selbst demontieren. Also verfiel Schröder auf den Trick mit dem Vertrauen.
Artikel 68 ermöglicht es dem Kanzler, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Im Wesentlichen geht es darum, zu erfahren, ob die Mehrheit der Abgeordneten die Politik des Regierungschefs noch mitträgt. Verliert der Kanzler die Abstimmung, kann er den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen.
Ob der Bundespräsident dieser Bitte folgt, hängt allerdings von einer Sache ab: Horst Köhler muss davon überzeugt sein, dass der Bundeskanzler handlungsunfähig ist und wirklich das Vertrauen des Bundestages nicht mehr genießt. Und hier fangen die Probleme an. Tatsächlich ist es so, dass Schröder sehr wohl noch das Vertrauen seiner Koalition besitzt. Das haben ihm alle Abgeordneten wiederholt versichert. Zuletzt sogar SPD-Parteichef Franz Müntefering während seiner Rede vor der Abstimmung, als er sagte: „Wir wollen Gerhard Schröder weiter als Bundeskanzler. Das Heute hat nichts mit Misstrauen zu tun.“
Letztendlich hat der Bundestag Schröder also das Misstrauen ausgesprochen, weil Schröder selbst es so wollte. Was beweist, dass er das Vertrauen der Abgeordneten der Koalition nach wie vor hat. Für Bundespräsident Köhler beginnt nun eine schwierige Zeit: Binnen 21 Tagen muss er entscheiden, ob er das Abstimmungsergebnis akzeptiert und Neuwahlen ansetzt. Oder aber die Abstimmung als das nimmt, was sie ist: Ein Trick.
Die meisten politischen Kommentatoren gehen davon aus, dass der Präsident dem Willen des Parlaments entsprechen wird. Damit liefert er sich allerdings einem Risiko aus. Seine Entscheidung ist nämlich nicht das letzte Machtwort in der Sache. Einige Abgeordnete haben bereits angekündigt, gegen Neuwahlen klagen zu wollen. Vor dem Bundesverfassungsgericht.
Das Bundesverfassungsgericht hat ebenfalls das Recht, das Abstimmungsergebnis zu prüfen und gegebenenfalls Neuwahlen vor Ablauf der Legislaturperiode zu verbieten. Wieso? Die Väter des Grundgesetzes hatten Weimar noch lebhaft vor Augen, als sie nach dem Krieg eine neue Verfassung schufen. In der Weimarer Republik wechselten die Regierungen in atemberaubendem Rhythmus und machten so eine gezielte Politik unmöglich. Bis die Wirtschaftskrise die Nazis an die Macht brachte. Darum besitzt das Grundgesetz eine letzte Hürde im Bundesverfassungsgericht.
Ob die Richter wirklich den Mut haben werden, gegen den erklärten Willen von Bundespräsident, Parlament und Volk zu handeln, ist fraglich. Eine Entscheidung gegen Neuwahlen würde die Blockade in der Politik um ein Jahr verlängern. Der Schaden wäre nicht nur für die Parteien und den Bundespräsidenten groß. Er würde letztendlich auch der Bevölkerung das Gefühl vermitteln, dass wieder einmal einige wenige am Wunsch der Mehrheit vorbei entscheiden.