Wie in der letzten Ausgabe berichtet, gehört Almaty zu den Gebieten der Welt mit einem hohen Erdbebenrisiko. Schaut man sich in der Stadt um, so stellt sich die Frage, inwieweit die Bausubstanz der Stadt gegen diese Gefahr gewappnet ist. Und sind die leichten, energieschluckenden Bauten eigentlich sicherer als massive Stahlbetonhäuser? Im zweiten Teil unserer Erdbeben-Reihe haben wir den Bauingenieur Axel Materne zu seinen Erfahrungen befragt.
/Foto: Thomas Düll. ‚„Das wackelt, aber es bleibt stehen“: Axel Materne vor einem Neubaukomplex im Hintergrund.’/
Axel Materne arbeitete bis vor kurzem als Consulter für die Bauunternehmung „Kablan“. Dort war er beratend in den Planungsprozess eingebunden und wurde speziell für die Belange der Tragwerksplanung von Bauten in Almaty und Astana nach Kasachstan geholt.
Vor welchen Vorgaben steht man, wenn man in Almaty bauen will?
Die Gebäude hier in Almaty werden für die Erdbebenstärke 9 bemessen. Es gibt hier sogar Gebiete in der Stadt, wo Beben der Stärke 10 möglich sind. Das heißt, alle Lastannahmen, die man trifft, werden nach diesen Größenordnungen berechnet. Die Aufgabe des Architekten ist dabei, zusammen mit dem Statiker und allen anderen, die an der Planung beteiligt sind, alles erdbebengerecht zu planen. Es gibt ungefähr 25 Grundregeln dafür, wie ein Gebäude hierfür zu entwerfen ist. Stellen sie sich vor, es kommt eine Erdbebendruckwelle die gegen das Gebäude stößt, zieht ihm sozusagen die Beine weg. Um dem standzuhalten, müssen bestimmte Symmetrien eingehalten werden, denn eigentlich weiß man nie genau, woher die Druckwelle kommt. Wir konstruieren also das Gebäude so, dass es dieser Welle standhält. Eine Möglichkeit ist zum Beispiel, das Gebäude wie eine Pyramide zu bauen, es möglichst symmetrisch zu konstruieren. Das heißt nicht nur von der Optik oder der Architektur her, sondern vor allem in bezug auf die Steifigkeit – also die Dicke der Wände, die Stützen und das tragende Gerüst. Je höher ein Gebäude wird, desto kritischer ist dabei die Statik. Wenn das Gebäude nur wenig über den Boden hinausschaut, bietet es auch wenig Angriffsfläche und dann gibt es eigentlich keine Probleme. Dies alles zu beachten und bei den Planungen zu helfen, das ist der Job, den man hier hat.
Gibt es Vorschriften zur Erdbebensicherheit der Gebäude?
Was heißt Vorschriften. Na klar, es gibt hier eine staatliche Behörde für Architektur- und Baukontrolle, die eigentlich alle Pläne auf ihre Erdbebensicherheit hin überprüft. Je höher der Schwierigkeitsgrad des Gebäudes dabei ist, desto genauer schaut natürlich der Staat auch hin und prüft, ob bestimmte Systeme den Vorschriften entsprechen. Das ist ein ziemlich zäher Prozess, der auch vielen, die aus dem Ausland hierher kommen, zu schaffen macht. Es gibt zusätzlich tektonische Karten, die im seismologischen Institut aushängen. Denn unter Almaty liegen bestimmte tektonische Fugen, und es ist gesetzlich geregelt, dass auf solche Fugen nicht gebaut werden darf. Die Behörden wissen genau, wo die Schollen aufeinander treffen.
Was ist sicherer? Leichte Gebäude, die Energien absorbieren oder die massiven Stahlbetonblöcke?
Im vorigen Jahr gab es den ersten seismischen Kongress hier in Kasachstan. Es kamen erfahrene japanische und koreanische Professoren, die sich mit Seismik beschäftigen und haben die modernsten Berechnungs- und Konstruktionsmethoden vorgestellt. Also energieschluckende Konstruktionen mit bestimmten Absorbern und Puffern, leichte Konstruktionen, bei denen alles ziemlich sicher ist. Das mit der leichten Bauweise ist ja die neuere Theorie. Aber meiner Meinung nach sind beide Bautypen sicher. So ein massives Gebäude schluckt die Erdbebenerschütterungen natürlich nicht wie die modernen Konstruktionen. Das wackelt, aber es bleibt stehen. Wenn jedoch einfach ein halbes Gebirge herunter rutscht, eine komplette Scholle von 50 Metern, wie in China passiert, kann man bauen und planen, wie man will, da hat man keine Chance.
Ist man hier in Almaty gut gerüstet?
Man hat hier vor den modernen Methoden oft kapituliert, weil die Möglichkeiten, sie zu berechnen, einfach fehlen. Mit der klassischen Methode hat man in der Planung die wenigsten Probleme. Sie ist unstrittig sicher gegen Erdbeben, aber dafür sehr materialintensiv und damit teuer. Wenn wirklich ein rechnerisch angenommenes Beben von 9 bis 10 eintritt, dann bleibt auf jeden Fall die Standsicherheit des Gebäudes bestehen. Auch die alten Hütten, die Plattenbauten in Almaty sind eigentlich recht massiv , sicher und noch nicht so hoch. Menschenleben werden also nicht zu beklagen sein. Die Gefahr ist allerdings oft nicht die Statik an sich. Es gibt viele andere mit Erdbeben verbundene Gefahren. Wenn ich mir die Haustechnik so ansehe, denke ich, dass sie das Hauptproblem ist. Da wird wahrscheinlich das meiste passieren. Die Gebäude bleiben vielleicht stehen, aber es bersten irgendwelche alten Gasleitungen und elektrische Leitungen schlagen Funken. Die Folgen sind Explosionen, Feuer, Rauchentwicklung. Oder es splittern nichttragende Teile. Dadurch sind unter Umständen Verletzte oder Tote zu beklagen.
Was empfehlen Sie den Einwohnern Almatys im Erdbebenfall?
Da bin ich nur ein Mensch wie jeder andere auch. Ich muss sagen, als ich einmal ein kleineres Beben erlebt habe, da bin ich instinktiv in Richtung Türrahmen gegangen. Auf jeden Fall weg von Decke und Balkon. Auch an den Wänden und in Zimmerecken ist es relativ sicher…
Das Interview führte Thomas Düll
03/10/08