Wenn der Tag lang ist, können einem manche Leute viel erzählen! Erst recht, wenn man selbst nicht vom Fache ist. Mein Optiker, so scheint mir, wollte mir zuletzt einen Bären aufbinden. Ich bin seit Jahrzehnten Brillenträgerin und habe doch schon manche Erfahrung mit Brillen verschiedener Art und Materialien sammeln können, aber so was habe ich noch nie gehört.

Meine Brille ist mir beim Putzen entzweigebrochen. Einfach so. Womöglich habe ich durch mein Akrobatiktraining übermäßige Kräfte angesammelt und bin stärker, als ich selbst ahne, war mein erster Gedanke. Aber mein Besteck ist noch nicht verbogen, ich breche anderen Leuten beim Händeschütteln nicht die Finger, drum liegt es wohl doch eher an der Brille als an mir. Mein Fazit: Fabrikationsfehler.

Kann vorkommen, aber die Schuld bleibt auf Seiten des Herstellers, da wird mir mein Optiker sicher Recht geben. Tat er aber nicht und tut er bis heute nicht. Nämlich: Bei dieser kalten Witterung müsse man mit einer Brille eben sehr, sehr vorsichtig sein! … ???? Da mein Optiker aber bierernst dreinschaut und felsenfest an diese Theorie zu glauben scheint, versuche ich es doch mal mit vernünftigen Argumenten. Ich gebe zu bedenken, dass es zu dem Zeitpunkt, als ich die Brille putzte, also gestern, sonniger Herbst war bei 16 Grad Plus! Und es fragt sich, was denn passieren würde, wenn es noch kälter würde, was es ja garantiert wird. Dass es nicht sein kann, dass Brillen grundsätzlich im Winter ständig beim Putzen entzweibrechen. Was machen denn die Leute in Sibirien, und überhaupt war ich selbst schon in Sibirien, nämlich mit meiner alten Brille, und die hat mehrere sehr kalte Winter ganz prima und unbeschadet überlebt. Trotzdem, findet mein Optiker. Aber jedenfalls, so lenkt er schnell ab, könne er mir die Brille umsonst kleben, was normalerweise 18 Euro kosten würde, er mache das aber umsonst. Und schaut zufrieden daher, als wäre dies nun ein besonderer Kundenservice. Ich will nicht länger streiten, und wir einigen uns auf diese Lösung.

Bis zum nächsten Tag hat sich mein Optiker dann ein weiteres Argument zurechtgelegt, warum die Brille kaputt gegangen ist. Es läge an meinem Schweiß. Da ich nicht so viel schwitze, frage ich, ob ich die Brille beim Sport besser absetzen soll, was zwar meine Verletzungsgefahr erheblich erhöhen würde, aber ich bin gewillt, mich mal auf diese neue Argumentationslinie einzulassen. Nein, daran läge es nicht, jeder Mensch habe eine individuelle Schweißzusammensetzung, und manche Leute könnten eben nicht gut Brillen dieses Materials tragen. Jetzt könnte ich mich einer sehr exklusiven Schweißkombination rühmen, da zig Millionen Brillenträger Brillen solchen Materials tragen und offenbar nicht ständig mit ihrem Schweiß ihre Brille zersetzen. Mein Optiker bemerkt offensichtlich, dass ich noch nicht überzeugt bin und führt eine dritte Waffe ins Feld: die Belastung. Ich solle mir doch mal vergegenwärtigen, welch großen, großen Belastungen solch eine arme Brille ausgesetzt sei. Man setzt sie auf, man legt sie ab. Und das täglich. Er zum Beispiel würde manchmal mit der Brille einschlafen und sie dann beim Aufwachen einen ganzen Meter entfernt von sich wiederfinden!

Da ich allmählich nicht mehr weiß, wer hier von uns an Realitätsferne leidet und ich ja schließlich nur mit meinem gesunden Menschenverstand gegen amtlich zertifizierte Fachkenntnisse ankämpfe, hole ich mir bei meiner schlauen Freundin Elli Bestätigung. Sie sagt, ich solle meinen Optiker beim nächsten Brillenkauf bitten, ein Gestell zu finden, das zu meinem Sternzeichen und Aszendenten passt. Damit müssen wir mich und meine künftige Brille außer dem medizinisch-hygienischen und klimatologischen auch einem astrologischen Test unterziehen. Einfacher ist es, den Optiker zu wechseln.

Julia Siebert

26/09/08

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