Die deutschen Frauen, die in der Sowjetunion während der Kriegszeit in die Trudarmee einberufen wurden, mussten zunächst eine mehrtägige, entbehrungsreiche Zugfahrt auf sich nehmen. Auch Mathilde, der Tante von Valentine Bolz, erging es so. Teil 2. Fortsetzung aus der letzten Ausgabe.

Nelli war die jüngste in ihrem Waggon. Die Frauen kicherten und zogen Nelli auf. Das hübsche Mädchen war sehr schüchtern, auch Sascha traute sich nicht, sie anzusprechen. Nelli war am ärmlichsten gekleidet: eine dünne, mit Flicken übersäte Jacke, ein ausgeblichenes Sommerkleidchen, auf den Füßen Holzpantoffeln. Nelli erzählte, dass sie bei der Deportation aus dem Kaukasus alles verloren hatten – der Kahn, mit dem man sie übers Kaspische Meer gebracht hatte, bekam ein Leck und fing an zu sinken. Sie konnten sich noch im letzten Moment auf den zweiten Kahn retten, aber ihr bisschen Hab und Gut ging unter. Auch auf dem zweiten Kahn mussten sie um ihr Leben bangen – er war hoffnungslos überladen. Aber nach einem Monat sinnloser Irrfahrt kamen sie heil am Verbannungsort an. Im ersten Winter starb die Mutter und nach ihr vier Geschwister. Nelli blieb allein mit drei kleinen Schwestern.

Sie schrieb ihrer Tante, die in der Nähe von Slawgorod lebte. Sie kam nach Petropawlowsk und holte sie. Der Kolchosvorsitzende des Auls, in den man sie geschickt hatte, hatte nichts dagegen, denn er konnte auf sie als Arbeitskraft nicht zählen. Die Tante hatte selber sieben Kinder. Und als Nelli in die Trudarmee musste, konnte sie ihr nichts mitgeben. Sie hofften, dass Nelly da eingekleidet und auch Essen unterwegs bekommen würde. Mathilde gab ihr gestrickte Wollsocken, Dora holte eine alte Strickjacke aus ihrem Bündel und lieh sie ihr. Nelli war immer hungrig und fror erbärmlich.

Tränen der Dankbarkeit

Als Nelli Sascha ihre Blechschüssel reichte, schöpfte er ihr zwei Schöpflöffel Kascha ein, dann griff er in seine Tasche und legte ihr noch zwei dicke Scheiben Brot mit einem Stück Speck dazwischen obendrauf. Nelli schaute ihn zum ersten Mal offen mit ihren großen Augen an, errötete und dankte leise. Sascha schaute sich verstohlen um, legte den Schöpflöffel in den Kessel, schnallte den Soldatengürtel auf, und holte unter dem Mantel ein paar alte, versohlte Filzstiefel heraus. Die schob er in den Waggon und flüsterte: „Für dich!“ Lydia schnappte sich die Filzstiefel und schob Nelli Richtung Ofen: „Los, zieh sie an!“ Die Lehrerin nickte dem Soldaten anerkennend zu: „Gut gemacht, Junge!“ Lydia drehte sich um: „Dafür bekommst du von jeder von uns einen Kuss. Und von Nelli drei. Und ich fang an!“ Sascha errötete über beide Ohren, nahm den leeren Kessel und eilte zum Kopf des Zuges.

Nelli weinte vor Dankbarkeit und Freude. In den Filzstiefeln waren noch ein paar Strümpfe drin, drei Stück Zucker und ein Brieflein. Sascha schrieb, dass er die Filzstiefel für ein Laib Brot an einer Station eingehandelt habe, Nelli solle auf sich aufpassen, und er würde sich freuen, wenn sie ihm schreiben würde an die Adresse seiner Eltern. Diese würden es an ihn weiterschicken. Er müsse wahrscheinlich gleich an die Front, wenn sie an Ort und Stelle wären. Nelli drückte den Brief an die Brust und legte ihn dann in die Manteltasche. Die Lehrerin meinte: „Lerne ihn lieber auswendig! Man weiß ja nie…“ Mathilde drückte ihr die Schüssel mit Kascha in die Hand: „Iss jetzt endlich, sie ist schon ganz kalt!“

Ein Moment Ausgelassenheit inmitten der Tristesse

Nach einer Weile wurden die Türen der Waggons wieder aufgeschoben. Man hörte Kommandos: „Aussteigen! Alle raus! Vor den Waggons bleiben, sich nicht weiter als zehn Meter vom Waggon entfernen!“ Sascha strahlte sie an: „Steigt aus! Wir werden heute lange stehen.“ Die Frauen hüpften aus den Waggons in den Schnee. Es war schon nicht mehr so kalt, und es fing an zu schneien. Erst standen alle vor den Waggons, hüpften von einem Fuß auf den anderen, um sich aufzuwärmen. Die Soldaten sammelten sich in kleinen Grüppchen und rauchten. Es schneite immer mehr.

„Bald ist Weihnachten“, dachte Mathilde. Sie nahm eine Handvoll Schnee, drückte ihn zusammen – Pappschnee! Perfekt für einen Schneemann. Sie machte eine Kugel, die anderen schlossen sich an. Der Schneemann war im Nu fertig. Das löste solche freudige Stimmung aus, dass die Frauen übermütig wurden. Bald flogen schon die ersten Schneebälle aufeinander. Lachend und kreischend, rannten sie im Kreis und warfen Schneebälle. Sascha bekam auch einige ab. Er schob seine Flinte auf den Rücken, machte einen Schneeball und warf ihn gegen Nelli, Nelli lachte und schoss zurück. Dora und Mathilde machten sich zuerst einen Haufen Bälle, die sie sich zu Füßen legten, dann fingen sie mit dem Werfen an.

Hitlers vermeintlicher Plan

Ein Grüppchen Soldaten beobachtete das Treiben der jungen Frauen und lachte: „Na, die Deutschen sind ganz schön temperamentvoll!“ Der Grobschlächtige grinste anzüglich: „Ich hätte nichts dagegen, das Temperament einiger von denen in der Nacht zu testen.“ Ein großer, schlaksiger Bauernbursche staunte: „Sind das wirklich Deutsche? Woher kommen die denn?!“ „Na woher denn! Direkt aus Deutschland“, meinte der sommersprossige Witzbold, den alle Balabolka nannten, ernst. „Ja, wo ist Deutschland, und wo sind die?!“ Balabolka zwinkerte den anderen zu und ließ sich auf eine lange Erklärung ein: „Weißt du, Foma, das war der schlaue Plan von Hitler. Er trennte alle Frauen von den Männern und schickte die Frauen in den wildesten Osten, sozusagen an den Arsch der Welt.“

„Wozu?“, staunte Foma. „Na wie verstehst du es nicht?! Die Männer schickte er in den Krieg, und da sie bestrebt sind, so schnell wie möglich sich mit ihren Frauen zu vereinigen, kämpfen sie wie die Wilden. Hast doch schon gehört von dem Blitzkrieg? Die Frauen sind Hitlers Geheimwaffe! Deswegen hat er schon halb Europa erobert. Aber nicht mit uns! Wir haben seine Taktik durchschaut. Wir haben uns die Weiber geschnappt und bringen sie jetzt in den wilden Westen – an den anderen Arsch der Welt. Da drehen die Fritzen doch gleich um und überrennen sogar ihren Hitler!“ Die Soldaten beobachteten den verdatterten Foma und brüllten vor Lachen. Foma verstand endlich, dass er reingelegt wurde, spuckte verärgert in den Schnee, schnappte sich sein Gewehr und stampfte an den Kopf des Zuges.

Nach der Ankunft wurde der Ton rauer

Erst am späten Abend kam das Kommando: „Alles einsteigen!“ Sascha schob die Tür zu. Im Waggon war jetzt frische Luft, aber es war sehr kalt. Bald wurde die Tür wieder aufgeschoben und Sascha reichte den Frauen Holzscheite von einem mit Brennholz beladenen Schlitten. Sascha arbeitete schnell, die Frauen nahmen das Holz ebenso schnell entgegen und ließen es im Waggoninneren verschwinden. Der Kutscher schrie: „Es reicht!“ Aber Sascha rannte noch ein Stückchen hinter dem Schlitten her und holte noch einen Armvoll runter. Er reichte den Frauen die letzten Scheite: „Und jetzt heizt den Ofen ein. Gute Nacht, Mädels!“, er schob die Tür zu und verriegelte sie. Der Zug stand noch die ganze Nacht. Erst als der Himmel am Horizont anfing, sich aufzuhellen, setzte er sich rückartig in Bewegung. Noch drei Tage und drei Nächte waren sie unterwegs.

Am Morgen des vierten Tages stiegen sie an einem Abstellgleis aus den Waggons. Nelli reckte den Hals, suchte nach Sascha, aber er war nirgends zu sehen. Die Frauen mussten sich in Kolonnen ordnen und wurden durch die Stadt geführt, begleitet von bewaffneten Soldaten. Niemand wusste, wo sie sind. Gertrude, die neben Mathilde ging, flüsterte: „Ich glaube, wir sind in Molotow. An einem Schuppen am Bahnhof stand irgendwas mit „Molotowski“, der Rest war von einem Lastwagen verdeckt.“

„Ich verstehe nicht, warum man uns bewacht. Was sind wir? Verbrecher!?“, flüsterte Mathilde zurück. „Wir wurden ja schon den ganzen Weg bewacht“, schloss sich Emily an. „Das waren doch nur Begleitsoldaten, und die meisten waren doch auch ganz nett.“ „Gespräche einstellen!“, herrschte sie ein Soldat an. Die Frauen verstummten erschrocken. Das Marschieren in der engen Kolonne strengte sehr an. Nach zwei-drei Stunden Fußmarsch kamen sie an einen hohen Zaun mit Stacheldraht und Wachtürmen. Mathildes Herz zog sich zusammen: „Was soll das? Ist das ein Gefängnis?“ Die Frauen schauten sich entrüstet an, trauten sich aber nicht, irgendwas zu sagen.

Wo die Frauen ankamen und wie es ihnen dort erging, lesen Sie in der kommenden Ausgabe.

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