Chinas Wirtschaftsboom ist an der Veränderung der Städte abzulesen: Aus „sozialistischen Volksstädten“, die mehr Dörfern ähnelten, sind moderne urbane Zentren geworden. In Shanghai leben dabei Arm und Reich nur einen Steinwurf voneinander entfernt

Chinas Wirtschaftsboom ist an der Veränderung der Städte abzulesen: Aus „sozialistischen Volksstädten“, die mehr Dörfern ähnelten, sind moderne urbane Zentren geworden. In Shanghai leben dabei Arm und Reich nur einen Steinwurf voneinander entfernt

Eine boomende Wirtschaft, stetig hohe Wachstumsraten, die westliche Länder neidisch machen, und eine immer größer werdende Bedeutung in den internationalen Beziehungen – das ist China, das Kraftwerk der Welt des 21. Jahrhunderts, dessen enormen Einfluss heute keiner seiner Nachbarn mehr bestreiten kann.

Einige Analytiker sehen das Emporstreben dieses neuen Machtzentrums als positive Entwicklung, die das Gleichgewicht der Welt erhalten kann. Andere dagegen warnen vor der wachsenden „chinesischen Gefahr“. Wirtschaftler und Politiker, die Hauptinitiatoren und Nutznießer dieses Prozesses, sind mehr als zufrieden – der enorme chinesische Markt hat immer Hunger, nimmt gierig alle neuen Produkte auf und fragt nach mehr und immer mehr.

Die meisten der kleinen und mittleren Städte Chinas haben ihr Aussehen in den letzten Jahrzehnten schlagartig verändert: Aus „sozialistischen Volksstädten“, die mehr Dörfern ähnelten, sind moderne urbane Zentren geworden. Beijing und Shanghai haben sich zu zentralen Metropolen Asiens entwickelt, die nicht weniger trendy sind als Tokyo oder Bangkok. Selbst an der Peripherie der Volksrepublik, in Xinjiang und Tibet, werden die heruntergekommenen, flachen Wohnhäuser ohne Wasser und Elektrizität durch Wolkenkratzer ersetzt, die die Beamten vor Ort ihren potentiellen ausländischen Investoren stolz präsentieren.

Zusammen mit ihrer Umgebung haben sich auch die Chinesen selbst verändert. Die Kräfte des Marktes steuern jetzt ihre Welt, ihren Lebensstil, ihre Werte und ihr Verhalten. Zhou Weihuis Romanfigur „Shanghai Babe“, die ihre Freizeit mit Einkaufen und rauschenden Teenieparties verbringt und ständig auf der Suche ist nach neuen, extremen Erfahrungen, ist ein passendes Symbol für das neue China.

Doch Chinas turbokapitalistische Entwicklung hat auch eine Reihe von negativen Begleiterscheinungen aufzuweisen. Hinter der Fassade des schillernden Erfolges werden sie kaum wahrgenommen. Shanghais Nanjing-Straße, zentrale Einkaufsmeile der Stadt, wo die nouveaux riches des Reichs der Mitte in Restaurants mit Champagner und Kaviar ihre Erfolge feiern, hat arme Verwandte in enger Nachbarschaft. Nur ein paar Ecken weiter sind die Gassen eng, alt und schäbig, die Häuser zum Zerbersten übervölkert. Hier wohnen die Menschen, die nichts vom chinesischen Erfolg abbekommen haben: Rentner, arme Familien und Wanderarbeiter aus weniger entwickelten Provinzen des Inlands, die hierher gekommen sind, um an der „Goldküste“ im Osten Chinas ihr Glück zu suchen. Wie sie es schaffen, zu überleben, und was sie tun, scheint niemanden zu kümmern. Ihre Existenz wird nur dann wahrgenommen, wenn die Städteplanungsbehörde einen dieser dreckigen Flecken von der schicken Oberfläche der Stadt entfernen möchte. Aber auch dann geht es dem Beamten der Planungsbehörde nur darum, diese Leute möglichst kosteneffektiv loszuwerden. Zwar muss er etwas Vorsicht walten lassen, um nicht Gesicht und Image zu verlieren.

Aber wenn niemand hinsieht, kann man schon mal über Nacht ein Altbauviertel abreißen lassen, ohne sich über den Verbleib der Bewohner den Kopf zu zerbrechen. Wenn niemand hinsieht, ist in China alles möglich.

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