Durch das traurige Schicksal von Tausenden von zwangsdeportierten Menschen kann man in den Gemäuern des Zwangsarbeitslagers Karlag in Karaganda schweifen. Das tat auch unser Autor.

Mitten in der Steppe, etwa 50 km entfernt von Karaganda, liegt der Ort Dolinka. Ein paar dunkle Rauchschwaden aus den umliegenden Kohlefabriken liegen am Himmel. Blockbauten gibt es hier keine, stattdessen kleine, einstöckige Häuser mit bunten Fensterläden und verzierten Fassaden. Hinter Blechzäunen verstecken sich blühende Gemüsegärten, ein paar Sonnenblumenpflanzen ragen herüber. Zwei ältere Frauen schieben ihre Fahrräder über eine Seitenstraße, vor dem Dorfladen unterhalten sich ein paar Männer. Es herrscht Dorfcharakter. Etwas dahinter weist ein Schild in drei Sprachen auf das örtliche Museum hin.

Dolinka, der kleine idyllische Ort mit den vollen Gemüsegärten und bunten Häuschen, steht für das dunkelste Kapitel der Sowjetunion. Für den Schrecken und Terror des Stalin-Regimes. Von hier aus wurde eines der größten und wichtigsten Zwangslager des Gulags der Sowjetunion verwaltet, das Karlag. Man nimmt an, dass hier zwischen 1931 und 1959 mindestens eine Millionen Menschen untergebracht waren – Frauen und Kinder mit eingeschlossen. Viele von ihnen fielen den schrecklichen Bedingungen zum Opfer. Das ehemalige Verwaltungsgebäude dient seit 2012 als Museum. Eindrucksvoll erzählt es auf drei Etagen vom Leben im Lager, den Deportationen und dem Weg Kasachstans in die Unabhängigkeit. Fast 20.000 Besucher waren im letzten Jahr hier.

Bereits im Eingangsbereich wird klar, dass hier nichts beschönigt werden soll. Ein zerbrochenes Jurtendach symbolisiert den Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen den Terror, darüber eine weiße Taube für die Freiheit. Gleich dahinter kann man Stalin direkt in die Augen schauen. Davor steht ein von Stacheldrahtzaun umgebener Wachturm. „Egal wo sie stehen, Stalin guckt sie aus jeder Perspektive an. Probieren Sie es aus“, sagt die Führerin. Man soll sie spüren, die Überwachung, die totale Kontrolle. Im Hauptgang sind verschiedene Zeitzeugnisse ausgestellt – Briefe, Tagebucheinträge, Befehle. Auf einer Karte kann man das gesamte Gebiet des Lagers betrachten. „Etwa 200 km lang und 300 hoch“, erklärt die Führerin. Erst jetzt wird einem die Dimension etwas klar.

Diese Installation symbolisiert die staatliche Überwachung. Stalin hat einen immer im Blick. | Bild: Paul Toetzke

Im Erdgeschoss wird man von rotem Licht und schauriger Hintergrundmusik verfolgt. In verschiedenen Themenräumen wird der Besucher über die Anfänge der Sowjetunion in Kasachstan informiert. Kollektivierung, der Holodomor, die große Hungersnot Anfang der 30er, die nicht nur die Ukraine, sondern auch Kasachstan betraf, und die Deportationen verschiedenster Nationalitäten unter Stalin. Deutsche, Koreaner, Polen und viele mehr – sie alle wurden zu Staatsfeinden deklariert.
Dazwischen immer wieder Fotos der Insassen und ihrer Familien. Denn deportiert wurden auch die Familienangehörigen der Volksfeinde. Etwa 1500 Kinder sollen im Lager geboren worden sein. Doch die Führerin betont immer wieder, wie schwierig es ist, genaue Zahlen zu nennen. Die meisten Informationen basieren auf Aussagen von Zeitzeugen, ihren Dokumenten – so wie zum Beispiel das Buch Der Archipel Gulag des berühmten sowjetischen Dissidenten Solschenizyn – und hinterlassenen Lagerbefehlen.

Im Keller kann man die Zellen der Insassen besichtigen. Viele Ausstellungsstücke wie die Türen, verschiedene Möbel und Geschirr sind Originale. „Stellen Sie sich vor, in so einer Zelle mit fünfzehn weiteren Männern zu wohnen“, sagt die Führerin. Man möchte sich es nicht ausmalen. Sie führt einen weiter ins Verhör– und Folterzimmer. Verhörszenen aus verschiedensten Filmen schießen einem in den Kopf. An der Wand hängt ein Originalfoto mit einem Vernehmungsoffizier bei der Arbeit, auf dessen Basis der Raum nachgestellt wurde. Im ersten Stock kann man die Arbeit im Lager nachverfolgen. Dieser Teil soll dem Besucher auch zeigen, dass Verhaftungen jeden treffen konnten – egal wie bekannt und wichtig die Person sein mochte. Dichter, Nobelpreisnominierte, berühmte Künstler – das System machte vor niemandem Halt.

Und trotz der schrecklichen Bedingungen im Lager kam es zu Erfindungen und technischen Entwicklungen, von denen die Führerin nicht ganz ohne Stolz berichtet. Da gibt es eine besondere Lampe, die Arbeiter vor Krankheiten schützt, extralange Sonnenblumen und übergroße Wassermelonen. Sogar ein eigens eingerichtetes Chemielabor kann man besichtigen. Im Zimmer nebenan befindet sich das Büro des Kommissars, weiträumig, und sogar mit Fernseher und Radio ausgestattet. Für diese Zeit bemerkenswert. Von seinem Balkon aus konnte er die gesamte Umgebung überblicken. Insgesamt gab es 11 Kommissare zwischen 1931 und 1959. Das Wohnhaus des Kommissars steht noch heute, nur eine Straße weiter.

„Zu verkaufen“ kann man an einem der Fenster lesen. Es ist nicht das einzige Haus in der Gegend, das solch eine Beschriftung trägt. Gebaut wurden die Gebäude von den Gefangenen. Tatsächlich lebten Täter und Opfer nach der Schließung des Lagers jahrelang Tür an Tür, nicht nur in Dolinka. Heute sind die meisten in ihre Heimat zurückgekehrt oder verstorben.
Das Ende des Rundgangs markiert ein Zimmer im Erdgeschoss. Im Kontrast zu den rotbeleuchteten Zimmern des Stalinterrors ist es ganz in Blau gehalten und präsentiert Kasachstans Weg in die Unabhängigkeit. Kasachstan als multiethnischer Staat, in dem jede Nation seinen Platz finden soll.

Paul Toetzke

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