Um die überwiegend nomadischen Kasachen sesshaft zu machen, zerstörten die Bolschewiki zu Beginn der 1930er Jahre systematisch deren wirtschaftliche Lebensgrundlage und Sozialstrukturen. Die Folge war eine Hungersnot, die bis zu ein Drittel der Bevölkerung auslöschte. Der Historiker Robert Kindler hat darüber ein Buch geschrieben, das nun ins Kasachische übersetzt wurde.
Unter den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat die Hungersnot in der Sowjetunion Anfang der 1930er Jahre zweifellos ihren festen Platz. In Timothy Snyders „Bloodlands“ bildet sie den Auftakt einer Serie von Verbrechen durch Hitlers NS-Regime und den Stalinismus, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs rund 14 Millionen zivile Opfer in Ost- und Mitteleuropa forderten.
In der deutschen Öffentlichkeit wird der Hungertod von Millionen Sowjetbürgern in erster Linie mit der Ukraine in Verbindung gebracht, wo die Auslegung der historischen Ereignisse seit vielen Jahren Gegenstand der aktuellen Auseinandersetzung mit Russland ist.
Weniger bekannt ist dagegen, dass auch auf dem Gebiet des heutigen Kasachstan und in anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion zum gleichen Zeitpunkt der Hunger tobte – mit ebenso verheerenden Auswirkungen auf die dort lebenden Menschen. In Kasachstan fiel bis zu ein Drittel der Bevölkerung den Folgen von Stalins Politik zum Opfer.
Stalins Nomaden
„Kasachstan ist für die Geschichte des Stalinismus eine zentrale Region“, findet der Osteuropahistoriker Robert Kindler, der am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin Geschichte lehrt. Kindler hat sich viele Jahre als einer von wenigen deutschen Historikern schwerpunktmäßig mit Stalinismus in Zentralasien und der dortigen Erinnerungskultur beschäftigt.
Sein großes Verdienst ist das 2014 erschienene Buch „Stalins Nomaden – Herrschaft und Hunger in Kasachstan“, das die rücksichtslose Herrschaftsdurchsetzung der Bolschewiki in der Region mit all ihren Folgen dokumentiert.
Eindrücklich schildert der Historiker, mit welchen Mitteln die damals überwiegend nomadisch lebenden Kasachen sesshaft gemacht werden sollten, wie die Vorräte aus den Aulen abtransportiert und die Tiere der Nomaden fortgetrieben wurden, wie die Ökonomie der Steppe und die dortigen Sozialstrukturen zerstört wurden, und wie die daraus resultierende Hungersnot die kasachische Gesellschaft sowjetisierte, indem sie die Menschen von den Institutionen und Strukturen des Staates abhängig machte.
Das Besondere: Kindlers Werk ist seit 2023 auch einer kasachischsprachigen Leserschaft zugänglich. Am vergangenen Mittwoch stellte der Historiker die kasachische Übersetzung von „Stalins Nomaden“ an der Nasarbajew-Universität in Astana vor und nahm vor rund 250 Zuhörern an einer Diskussion über die Hungersnot in Kasachstan von 1931 bis 1933 teil.
In wenigen Monaten von der Idee zum fertigen Produkt
Dass sein Buch einmal ins Kasachische übersetzt werden würde, hätte der Autor sich immer gewünscht. Doch ein solches Vorhaben wäre kaum zu finanzieren gewesen. Und so befasste sich Kindler nie allzu ernsthaft mit der Idee – bis der Verlag Hamburger Edition, der sein Buch verlegt, im Herbst 2022 eine Mail aus Astana bekam.
Der Verlag Foliant, der dort seinen Sitz hat, meldete sich mit der Bitte, „Stalins Nomaden“ ins Kasachische übersetzen zu dürfen. Woher das Interesse kam, schilderte der Direktor von Foliant Kindler gegenüber kürzlich bei einem gemeinsamen Abendessen: Eine Bekannte hatte kurz zuvor die Frankfurter Buchmesse besucht und war dort auf das Werk aufmerksam geworden.
Der deutsche Verlag kontaktierte Kindler, und der willigte sofort ein. Danach ging alles sehr schnell, wie sich der Historiker mit Begeisterung erinnert: „Wenn man jemals ein Buch gemacht hat, weiß man, wie lange das dauert. Und hier hat es ein halbes Jahr gedauert. Es war faszinierend, zu sehen, wie die kasachischen Kollegen innerhalb weniger Monate von der Idee zum fertigen Produkt gegangen sind.“
Die Translation übernahm kein Geringerer als Oten Achmet, der in Kasachstan zu den angesehensten Übersetzern zählt. Übersetzt wurde nicht direkt aus dem Deutschen, sondern aus der russischen Variante des Buches.
„Für mich ist das eine ganz große Freude, weil es ein Buch ist, in dem es um die Geschichte Kasachstans geht, aber vor allem der Kasachinnen und Kasachen“, sagt Robert Kindler. „Und die Möglichkeit, dass es nun auch eine kasachischsprachige Leserschaft zur Kenntnis nehmen kann, ist wunderbar.“
Opferzahlen schwer zu rekonstruieren
Dabei werden einige Aspekte rund um das Thema in der Gesellschaft Kasachstans durchaus kontrovers diskutiert. Etwa die Opferzahlen, die sich nur schwer rekonstruieren lassen, weil Statistiken bruchstückhaft und selektiv geführt, die Toten oft nicht registriert wurden und auch die Ergebnisse der wichtigsten Volkszählungen in dieser Zeit wenig verlässlich waren. Insgesamt geht man heute von mindestens 1,5 Millionen Opfern auf kasachischem Territorium aus, die allermeisten davon ethnische Kasachen.
Ein weiterer wunder Punkt ist die Frage, inwieweit auch Einheimische an der Umsetzung der verheerenden Politik Moskaus beteiligt waren. Für viele Bürger in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion mag es heute eine schmerzhafte Vorstellung sein, doch ohne Menschen mit sehr guten Kenntnissen der jeweiligen Region und ihrer Sozialstrukturen wäre die Herrschaftsdurchsetzung der Bolschewiki mit ihren Folgen kaum denkbar gewesen.
Historiker Kindler definiert in Hinblick auf die Täter in Kasachstan zwei Ebenen, die sich verbinden: die der europäischen Kommunisten, die von oben auf die Region herabschauten und glaubten, ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den angeblich „rückständigen“ Kasachen durchsetzen zu müssen – und die der Kräfte vor Ort, denen die Beteiligung einen sonst nicht denkbaren sozialen Aufstieg ermöglichte.
Streitpunkt Genozid
Schließlich geht es noch darum, ob sich die Ereignisse der frühen 1930er Jahre als Genozid einordnen lassen oder nicht. Während in Kasachstan die Befürworter der Genozid-These auf den enorm hohen Anteil ethnischer Kasachen an der Gesamtopferzahl verweisen, stellen die Kritiker eine Vernichtungsabsicht Stalins in Frage.
„Es war eine demographische, ökonomische, soziale und kulturelle Katastrophe“, sagt Robert Kindler. Die kasachische Gesellschaft, wie sie bis dahin existierte, sei zerstört worden. Die sowjetische Führung habe aber nach seinen Rechercheerkenntnissen nicht gezielt Hunger eingesetzt, um das kasachische Volk systematisch zu vernichten; der Tod der Menschen sei vielmehr als Folge der rücksichtslosen Politik billigend in Kauf genommen worden.
„Die Hungersnot ergab sich daraus, dass diese Politik, insbesondere die Abgabe von Vieh und Getreide sowie andere Belastungen wie Steuern, in großer Härte und absoluter Gnadenlosigkeit immer weiter durchgezogen wurde, auch wenn die Folgen schon absehbar waren.“
Erinnerungskultur im Wandel
In Kasachstan haben sich das Interesse an der Hungersnot der frühen 1930er Jahre und die Sicht darauf immer wieder verändert, seit Glasnost und Perestrojka das Ende der Sowjetunion einläuteten. Die unterschiedlichen Etappen des Erinnerns hat auch Robert Kindler beobachtet.
In seinem Buch schildert er das schmale Zeitfenster zwischen 1988 und 1993, als die Kasachen die Neugier auf ihre eigene Geschichte und deren „weiße Flecken“ packte. Unter Ex-Präsident Nasarbajew wurde eine Kommission zu deren Erforschung eingerichtet, Berichte wurden rege veröffentlicht. „Wichtige kasachische Historiker haben darüber sehr gute Analysen geschrieben“, sagt Kindler.
Dann wurde es ruhig um das Thema. Im Zuge der Transformationsschwierigkeiten traten für die meisten Menschen die aktuellen Alltagssorgen in den Vordergrund. Zudem hatte sich in der Ukraine spätestens seit der Orangenen Revolution die These des Holodomor – des geplanten Genozids an Ukrainern durch systematischen Hunger – als Mittel der Abgrenzung von Russland etabliert.
Kasachstan dagegen suchte in den 1990er und 2000er Jahren Anlehnung an Russland – nicht zuletzt auch, um innenpolitische Instabilität zu vermeiden, wie andere Länder der Region sie in Form von ethnischen Konflikten erlebten.
Erst 2012, mit dem 80. Jahrestag der Hungersnot, rückte die Erinnerung an die damaligen Ereignisse wieder stärker in den Vordergrund, als Nasarbajew ein Hunger-Denkmal in der Hauptstadt errichten ließ und auf einer riesigen Konferenz eine viel beachtete Rede hielt, die Kindler als eine Art Wendepunkt sieht.
„Nasarbajew sprach damals zwar neutral von einer ‚Tragödie‘ und mahnte wie üblich Versöhnung an, betonte aber dennoch: Es ist unsere gemeinsame Geschichte.“ In den letzten zehn Jahren habe die Auseinandersetzung mit dem Thema dann weiter Fahrt aufgenommen und sich unter dem Eindruck der Ereignisse in der Ukraine noch verstärkt.
Das Interesse an Kasachstan wächst
Mit dem Team, das Robert Kindler am Osteuropa-Institut in den letzten beiden Jahren aufgebaut hat, will der Historiker künftig auch zu anderen Themen in Zentralasien arbeiten. Eine Kollegin forsche gerade zu sowjetischen Künstlerinnen in Usbekistan in den 1930er Jahren, eine andere zu Ressourcen und ökonomischen Verflechtungen in sowjetischen Peripherien im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Kindler selbst möchte eine kurze Geschichte Kasachstans für eine allgemeine Leserschaft schreiben und damit das wachsende Interesse an dem größten zentralasiatischen Land bedienen. „Kasachstan rückt als ressourcenreicher Staat gerade extrem in den Fokus. In dieser Situation ist es wichtig,, einen kompakten Überblick über die Geschichte des Landes zu geben.“