Über die Entstehung des Russland-Deutschen Theaters in Deutschland, sein 20-jähriges Jubiläum und dessen Feier am 21. November in Niederstetten.

„Man hat uns eine Chance gegeben, und wir haben die Chance genutzt. Heute blicken wir mit Genugtuung zurück: Wir haben 20 Premieren vorzuweisen, sind in 165 Orten Deutschlands vor einem dankbaren Publikum aufgetreten und haben all die Jahre beachtliche Unterstützung der Stadt Niederstetten genossen,“ stellte die Schriftstellerin Gertrud Zelinsky in ihrer Grußrede Ende November in Niederstetten fest und ließ ihr Herz über das pointierte Spiel der Theatertruppe im „menschlich berührenden“ Stück des jungen französischen Dramatikers Gerald Aubert „Das Zimmer 108“ sprechen.

Die Inszenierung entstand auf Initiative des Vereins „Freunde und Förderer des Caritas-Krankenhauses“. Die in der für ein Berufstheater ungewöhnliche Atmosphäre eines Krankenhauses gespielte Premiere erwies sich als Publikumserfolg. Vor allem war es das einfühlsame, überzeugende und mitreißende Spiel der Darsteller Maria Warkentin, David Winkenstern und Peter Warkentin, das die Zuschauer tief bewegte und so beeindruckend und
großartig war.

Kollegen am Jubiläumsabend: Lilia Henze, Veronika Klassen und Bolat Atabajew

…Es war ein frostiger, vom eintretenden Winter gezeichnete Abend, an dem sich Vertreter der Öffentlichkeit, ehemalige Kollegen, Freunde und Zuschauer im gemütlichen Theaterraum des Amtshauses Oberstetten zu einem erquicklichen Anlass versammelten: Das Russland-Deutsche Theater feierte sein 20-jähriges Jubiläum. So selbstverständlich es auch vielleicht klingt, ganz einfach war es für die Akteure dieser gepriesenen zwei Jahrzehnte nicht – vor allem die Gründungszeit war für sie eine überwältigende Herausforderung. Niederstetten, ein ruhiger, entlegener Ort, ohne Theatertradition und Erfahrung mit Berufsschauspielern, folgte mit Spannung vor zwanzig Jahren der ersten Aufführung „Deutschland. Ein Wintermärchen“, die die Schauspieler David und Viktoria Winkenstern 1994 im Veranstaltungshaus vor ihrem „neuen“ deutschen Publikum spielten. Durch einen Zufall landeten die beiden nach ihrer Auswanderung aus Kasachstan in Niederstetten und stellten sich bei der Stadt als Schauspieler vor. Der damalige Bürgermeister Kurt Finkenberger erklärte sich sofort bereit, dieser Initiative Unterstützung zu gewähren. Was aber von Anfang klar war: Ein eigenes Stadttheater mit Schauspielern als Angestellten konnte sich die Gemeinde nicht leisten. Doch die kleine Truppe, entwickelte sich bald darauf zu einem echten Theaterensemble.

Die neuangekommenen Schauspieler des ehemaligen Deutschen Theaters in Kasachstan Lilia Henze, Eduard Zieske, Alexander und Veronika Klassen, Peter und Maria Warkentin, schlossen sich ihnen an und engagierten sich als treue Anhänger ihrer Alma Mater, der Tschepkin-Hochschule in Moskau, einer der renommiertesten russischen Theaterschulen mit jahrhundertelangen Traditionen. Norbert Bach, Kulturamtsleiter der Gemeinde Niederstetten, berichtete am Jubiläumsabend in seinem Grußwort, wie es gelungen ist, diese einmalige, wertvolle kulturelle Institution aufrecht zu erhalten:

„Es wurde möglich gemacht, was möglich war: Hilfe zur Selbsthilfe. Die Schauspieler sollten Möglichkeit bekommen, hier zu proben und aufzutreten. Und darüber hinaus wollten wir sie unterstützen: bei der Organisation des Theaters, bei der Werbung, bei der Suche nach finanzieller Unterstützung zum Aufbau eines Tourneetheaters mit Sitz in Niederstetten.“ Und es hat sich gelohnt. Allmählich stellten sich die ersten Achtungserfolge ein: Die Zeitungen berichteten über die Premieren des Russland-Deutschen Theaters aus Niederstetten, das Fernsehen suchte die kleine Stadt auf und brachte Beiträge, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit weckten und dazu führten, dass die russland-deutsche Theaterstätte in Niederstetten immer beliebter wurde.

Apropos: Russland-Deutsches Theater – es gab mehrere Diskussionen über den Namen des Theaters, das zur Brücke zwischen den Russlanddeutschen und Einheimischen werden wollte. Keinen anderen aber wählten die Künstler, um den einzigartigen, beispiellosen Wert ihrer schauspielerischen Bemühungen eindeutig zu charakterisieren. Die Idee der „Brücke“ passte damals wie heute genau in ihre schöpferischen Vorstellungen sowie in das Repertoire hinein.
Die bereits Theaterwissenschaft studierende Tochter des Schauspielerehepaars Warkentin, Charlotte Warkentin, ist als Kleinkind mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Heute legt sie die Entwicklungsstationen des Russlanddeutschen Theaters wissenschaftlich dar und gewährt einen Einblick in seine deutsch-deutsche Geschichte: „Die Brücken-Metapher taucht im Laufe der vergangenen Jahre im Kontext des Russlanddeutschen Theaters immer wieder und in vielerlei Hinsicht auf. Wie es der Bürgermeister Herr Rüdiger Zibold schon geschildert hat, schlägt es als Ort der Zusammenkunft und des gemeinsamen Erfahrens durch die Darstellende Kunst eine Brücke zu Geschichten… So haben die Schauspieler in den ersten Jahren Stücke gewählt, die schon in Kasachstan und auf Gastspielreisen in Deutschland gut angekommen sind und bei denen es kaum der Um– oder Neubesetzung bedurfte. Die Schwänke von Tschechow „Der Bär“, „Der Heiratsantrag“, das Kinderstück „Die Kikerikiste“ von Paul Maar und „Zwei auf einer Bank…“

Mit diesen Aufführungen bekräftigte die Truppe ihr schauspielerisches Können und ihre starke künstlerische Position. Zu Neuinszenierungen kam es 1996. Bekannte und weniger bekannte Titel und Namen schmücken nun die Theaterplakate des Russland-Deutschen Theaters. Inzwischen wurden hier über 20 Theaterstücke, mit denen das Theater ganz Deutschland bespielt hat, inszeniert. Darunter „…und die Kabale und die Liebe“ ein Drama, geschrieben und inszeniert von dem, 2012 mit einer Goethe-Medaille ausgezeichneten bekannten Regisseur Bolat Atabajew, „Es war die Lerche“ von Ephraim Kischon, in Regie von Jörg Ehni, „Die Heirat“ von Nikolai Gogol, inszeniert von Julian Knab.

Nebst Inszenierungen bekannter Autoren kamen auch selbstentwickelte

Peter und Maria Warkentin, David Winkenstern – Jubiläumsfeier

Geschichten auf die Bretter. Eine davon ist „Der weite Weg zurück“. Rosemarie Bender, die zur Premierezeit dieser Aufführung als Bildungsreferentin in der Evangelischen Erwachsenenbildung tätig war, erinnert sich an diesen stimmungsvollen Abend:

„Geschichtsunterricht auf der Bühne – Einblicke in Traditionen, Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen wurden über das gute Theaterspiel mit Liedern, Erzählungen, mit all den Gefühlen, die dazugehören, vermittelt. Unvergesslich: Russlanddeutsche haben während der Aufführung die Lieder mitgesungen, hartgesottenen Männern standen die Tränen in den Augen, manche Liedchen und die Spiellust der Darsteller haben auch uns (Einheimische) herzlich lachen lassen…“

Die Ex-Zuschauer des Deutschen Theaters in Kasachstan könnten heute die Gefühle von Frau Bender teilen und ihrer Aussage beipflichten: Zu oft erlebten die Schauspieler des Theaters solche Augenblicke während ihrer Gastspielreisen durch die Städte und Dörfer Kasachstans und Russlands…

Olga Martens, erste stellvertretende Vorsitzende des Internationalen Verbands der deutschen Kultur in Moskau, lernte das Theater Ende der Achtziger während des ersten Festivals der russlanddeutschen Kultur in Temirtau kennen. Ihre Erinnerungen aus „Damals“ sind auch mit den Jahren nicht verblasst. In ihrem emotionalen Begrüßungswort betonte sie die außergewöhnliche Rolle der Theaterschaffenden und ihren Beitrag zur Stärkung des nationalen Bewusstseins des russlanddeutschen Volkes sowie über die Spuren, welche das Theater in ihrem Herzen hinterlassen hat. Frau Martens bezeichnete das Theater als Träger und Bewahrer der russlanddeutschen Kultur in Deutschland.

Den Künstlern wurden Blumen und Geschenke überreicht, die allgemein herrschende herzliche Atmosphäre verlieh ein freundschaftliches Einvernehmen, und so mancher Redner sprach sein Dankwort aus und teilte seine persönlichen Gefühle mit dem Publikum.

Doch wie gesagt, das Beste kommt zum Schluss: die Schauspieler David Winkenstern, Maria und Peter Warkentin spielten Auszüge aus ihren Inszenierungen vor und ernteten mit ihren Passagen lauten Beifall. In summa summarum artikulierten sie ihre deutliche Überzeugung – Wir sind ein Theater!

Dem Festakt wohnten auch die ehemalige Ensemblemitglieder bei – Lilia Henze, Viktoria Winkenstern, Alexander und Veronika Klassen. Sie waren beim Aufbau eifrig dabei und fieberten leidenschaftlich ihrer Schauspielbahn in Deutschland entgegen. Die Euphorie des Aufbruchs und den ersten Zuschauerbeifall im Russland-Deutschen Theater haben sie miterlebt. Doch der Zauberrausch, den die ersten Erfahrungen ausgelöst haben, wurde mit der Zeit leiser. Der alltägliche Stress, ungelöste Probleme und die „wenig erfolgversprechende ökonomische Situation“ in Niederstetten setzen ihre Zeichen. So waren sie gezwungen, die Spielstätte zu verlassen, um sich auf ein anderes Leben zu orientieren. In Darmstadt und in der Rhön. Ein Verlust, der in Niederstetten zweifellos zu spüren ist und den die Gemeinde im Nachhinein zutiefst betrauert.

In Shakespeares „Hamlet“ heißt es: „Das Theater ist der Spiegel, die abgekürzte Chronik der Zeit“. Eine unanfechtbare Behauptung des großen Dramatikers, die man durchaus auf die Existenz des Russland-Deutschen Theaters in Deutschland beziehen könnte. Eine Existenz, die trotz des großen Verlusts ruhmreichen Erfolg erzielt hat. Ein Theater, das das Leben synchronisiert und sich nicht als Echo der Vergangenheit darstellt, sondern als Verarbeiter der Gegenwart und Denker an die Zukunft.

Rose Steinmark

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