Die Schriftstellerin Eleonora Hummel präsentierte in Almaty ihren Roman „Fische von Berlin“ in kasachischer Sprache. Das Goethe-Instut fördert mit dem Projekt „Übersetzer in Bewegung“ Übersetzungen deutscher Literatur. Der Roman von Eleonora Hummel wurde von Rausa Mussabajewa aus Ekibastus übersetzt. Im Interview erzählt die Schriftstellerin Hummel über ihre Verbindungen zu Kasachstan, über ihr Leben in Deutschland und wie sie zu Übersetzungen ihres Werkes steht.

Liebe Frau Hummel, Sie kommen ursprünglich aus Kasachstan und sind dann als 10-jähriges Kind mit Ihrer Familie in den Kaukasus gezogen. Welche Erinnerungen an das Leben in Kasachstan haben Sie?

Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich Pappeln, Schnee und Melonen vor mir. Sehr viel Schnee. Ich erinnere mich an Ausflüge in die Steppe, um – je nach Jahreszeit – Tulpen, Wilderdbeeren oder Pilze zu sammeln. An den üppig wachsenden Schilf am Ufer des Flüsschens „Soljonaja Balka“. An Fahrten mit dem Tretboot auf dem Ischim. Und ich stelle fest, dass Ischim ein mir vertrautes Wort geblieben ist, obwohl ich es seit Jahrzehnten nicht mehr gehört habe. Es verbinden sich Erinnerungen an Badeausflüge damit, an einen LKW-Schlauch, der mir als Schwimmring diente und eigentlich selbst für einen Erwachsenen viel zu groß war.

Nach den langen kasachischen Wintern war das erste Gemüse aus dem eigenen Garten für uns immer etwas ganz Besonderes. Dieses intensive Aroma können Gurken und Tomaten aus dem Supermarkt heute nicht bieten, weshalb das für mich ein typischer Geruch der Kindheit bleibt, absolut unverwechselbar.

Natürlich gibt es neben diesen auch noch andere Erinnerungen. Spätestens mit dem Schuleintritt begann für mich jedoch eine Art Doppelleben: Was darf man nur zu Hause sagen und was soll/darf man in der Schule sagen? Wie muss ich mich verhalten, um nirgendwo anzuecken? Mir war frühzeitig klar: Ich darf nicht darüber reden, welche Radiosender bei uns zu Hause gehört und welche Themen von den Erwachsenen besprochen wurden. Ich erinnere mich an eine Atmosphäre geistiger Enge im öffentlichen Leben. Der Umstand, dass unser Alltag von staatlicher Propaganda geprägt war, hatte mich bereits im Kindesalter belastet. Mein „ausländisch“ klingender Name brachte mir Hänseleien seitens der Mitschüler ein. Nach dem Unterricht malte ich Prinzen und Prinzessinnen am laufenden Band und träumte davon, Künstlerin zu werden.

Wer oder was hat in Ihnen die Liebe zu Literatur erweckt? Welche Autoren lesen Sie am liebsten?

Sobald ich lesen gelernt hatte, sagte mein Vater, ich könne mich an seinem Bücherschrank bedienen. Er schaffte es irgendwie, regelmäßig Bücher gefragter Autoren nach Hause zu bringen und sortierte sie nicht nach Altersempfehlungen; so standen Kinder-, Jugend– und Erwachsenenbände bunt durcheinander. Ich las also mit sieben Jahren alles, was ich im Bücherschrank fand. Mein Lieblingsbuch war die russische Ausgabe von „Der Hobbit“, die besitze ich bis heute, kein anderes meiner Bücher ist so zerlesen wie dieses. Hemingways „Fiesta“ erschloss sich mir als Erstklässlerin nicht, dafür habe ich die Romane von Theodore Dreiser verschlungen. Damals reifte in mir der Entschluss, es ebenfalls mit Schreiben zu versuchen, ich stellte es mir nicht allzu schwierig vor. Ohne jeden Plan setzte ich mich hin und schrieb drauflos, bis zehn Seiten voll waren. Dieser erste Roman blieb jedoch glücklicherweise unvollendet.

Zeitgenössische russische Autoren waren Pflichtlektüre im Literaturunterricht. Ich erinnere mich noch an lange Bücherlisten, die wir über die Sommerferien abarbeiten mussten. So wählte ich meine Freizeitlektüre bewusst konträr zum schulischen Pflichtprogramm.
Als Jugendliche fand ich besonderen Gefallen an Wilkie Collins und seinem „Mondstein“; die Short Storys von O’Henry, die mein Vater wer weiß woher besorgt hatte, waren mir lange Zeit ein Lichtstrahl in trüben Stunden.

Heute beeindrucken mich die Werke von Herta Müller und der polnischen Autorin Joanna Bator sowie – nach wie vor – die von Michail Bulgakow. Weil sie besondere Geschichten in eindrucksvoller Sprache erzählen.

Wie schwer war es für Sie, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und ein neues Leben in Deutschland anzufangen? Jetzt, nach mehr als 30 Jahren, wie sieht Ihr Leben in Deutschland aus?

Sicher war mein damaliges junges Alter von großem Vorteil. Ich bin in Dresden in die sechste Klasse gekommen und habe ziemlich lange den Mund kaum aufgemacht, da ich für mein fehlerhaftes Deutsch nicht ausgelacht werden wollte. Erst nach einem Jahr war ich sicher genug, dass ich mich traute, laut und in ganzen Sätzen zu sprechen.

Längerfristige Schwierigkeiten bereitete mir allerdings die geringe Akzeptanz unserer deutschen Herkunft, die in der Sowjetunion nie jemand in Frage gestellt hatte. Anders in der DDR und BRD. Ab dem ersten Tag war ich hier „die Russin“. Die meisten Versuche, dieses Missverständnis zu klären, scheiterten. Auch heute noch kommt es vor, dass ich gefragt werde, ob Hummel mein Geburtsname sei, denn der klinge ja so deutsch, während ich doch aus Kasachstan stamme!

Heute bin ich in Deutschland fest verwurzelt. Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben. Die Verbindung zu dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, wird jedoch nie gänzlich abreißen. Ich verfolge die neuesten Entwicklungen in Kasachstan mit großem Interesse.

Ist der Roman „Die Fische von Berlin“ ein autobiographisches Werk? Wie sind Idee und Konzept des Romans entstanden?

Der Roman „Die Fische von Berlin“ ist ein literarisches Werk, in dem Fiktion naturgemäß einen großen Anteil einnimmt. Dass die Hauptfigur teilweise autobiographische Züge trägt, will ich jedoch nicht abstreiten. Ich teile mit ihr einige Daten im Lebenslauf, vom Wesen her ist die Figur aber als mein Gegenpol angelegt: Sie ist jemand, dem ich gern ähnlich gewesen wäre. Ich habe sie mit Eigenschaften ausgestattet, die ich selbst in diesem Alter so gern gehabt hätte – aber leider nicht hatte.

Davon abgesehen gibt es bei jedem Schreibprozess persönliche Berührungspunkte, selbst bei Sachbüchern; es ist unvermeidlich, dass Erfahrungen und Meinungen des Verfassers mit einfließen, dass er etwas von sich hineinschreibt. Meiner Meinung nach ist das jedoch unwichtig für die literarische Bewertung des Geschriebenen. Die Auskunft zu autobiographischen Bestandteilen dient lediglich der Befriedigung der Neugier des Lesers hinsichtlich der Person des Autors, was ja auch legitim ist. Statt diese Neugier restlos zu befriedigen, bevorzuge ich jedoch, solche Dinge der Fantasie des Lesers zu überlassen.
Dabei habe ich nach dem passenden Stoff lange suchen müssen; dass ich ihn letztendlich in meiner eigenen Familiengeschichte gefunden habe, ist Zufall. Die Romanidee entwickelte sich aus einer flüchtigen Erinnerung an ein Messer. Ich hatte plötzlich eine klare Vorstellung von dieser ersten Szene, obwohl ich heute nicht mehr sagen kann, wer mir überhaupt von dem Messer erzählt hat. Das einst irgendwo Gehörte hat sich im Gedächtnis festgesetzt, bis es schließlich zur „Primärvision“ meines Romans wurde: Um dieses Bild herum habe ich den Handlungsrahmen gestrickt.

Die Motivation, diesen Roman zu schreiben, war erstens mein Wunsch, als Schriftstellerin tätig zu sein und zweitens, eine spannende Geschichte zu erzählen, die man so in Deutschland noch nicht oft gehört hat. Neben einer Geschichte, die den Leser/die Leserin unterhalten und im Idealfall zum Nachdenken bringen soll, war mir auch daran gelegen, einem Leser, der mit den historischen Hintergründen vielleicht noch nicht vertraut ist, einen gewissen Erkenntnisgewinn zu verschaffen. Wenn man nach der Lektüre innehält, weil man vom Erzählten nicht unberührt geblieben ist, habe ich als Autorin viel erreicht.

Der Roman „Die Fische von Berlin“ ist ins Kasachische übersetzt worden. Was ist das Wichtigste für solch eine Übersetzung? Worauf sollte ein Übersetzer seine Aufmerksamkeit lenken, damit die Idee des Romans nicht verloren geht?

Seit ich einmal gebeten wurde, für eine zweisprachige Lesung eine Textpassage aus meinem Roman ins Russische zu übersetzen, habe ich den größten Respekt vor der Tätigkeit literarischer Übersetzer. Das ist eine Aufgabe, die große Sensibilität, ein außergewöhnliches Sprachgefühl und auch viel Übung erfordert. So habe ich zum Beispiel den Zeitbedarf für eine Übersetzung völlig unterschätzt. Dass auf der Suche nach der bestmöglichen Formulierung, dem treffendsten Begriff für den Übersetzer genauso viel Zeit vergehen kann, wie für einen Autor während des Starrens auf ein vollkommen weißes Blatt Papier.

Der Übersetzer muss Wortspiele und Doppelbödiges sinnerhaltend übertragen können, er muss den Text in der neuen Sprache zum Fließen bringen. Damit das gelingt, muss er sehr genau arbeiten; sich jedoch auch die Freiheit nehmen, von der Vorlage zugunsten eines besseren Verständnisses für die Leser eines anderen Kulturkreises abzuweichen.
Mein kleiner Selbstversuch hat mir klar gemacht, dass der Übersetzer eine bedeutende Verantwortung trägt. Dafür gebührt ihm größte Anerkennung. Heute achte ich wesentlich mehr auf die Feinheiten einer Übersetzung. So las ich vor kurzem die deutsche Neuübersetzung von „Der Meister und Margarita“. Im russischen Original ist an einer Stelle die Rede von „Solowki“, womit deutsche Leser eher wenig anzufangen wissen. Der Übersetzer hat sich für „Sibirien“ entschieden, geographisch zwar eine ganz andere Ecke, aber vom Sinn her deutlich aussagekräftiger für das deutschsprachige Publikum.

Vor kurzem ist Ihr Roman „In guten Händen in einem schönen Land“ erschienen. Wie kommen sie zu neuen Ideen?

Ich fand den Stoff vor einigen Jahren in einer russischsprachigen Zeitung und war auf Anhieb so tief beeindruckt, dass mir das Thema nicht mehr aus dem Sinn ging. Der Roman handelt von einer Kindheit im Stalinismus, von immer wieder betrogenen Hoffnungen und dennoch nicht versiegendem Lebensmut der drei Heldinnen. Das Mädchen Vika wächst im Heim auf, weil die Mutter Olessia eine Strafe im Lager absitzt. Als Olessia nach vielen Jahren endlich freikommt, muss sie feststellen, dass eine frühere Mitinsassin, Nina, inzwischen ihren Platz an Vikas Seite eingenommen hat. Und Vika muss sich plötzlich zwischen zwei Müttern entscheiden.

Insbesondere heute in der Zeit der neuen Technologien, wie kann man die Liebe zum Lesen entfachen?

Das Bücherlesen hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr Konkurrenz bekommen. Es gibt heute viele alternative Beschäftigungen, die wir in unserer Kindheit noch nicht kannten. Ich erinnere mich, dass wir Ende der 1970er unseren ersten Farbfernseher bekamen, man konnte zwischen zwei Programmen wechseln. Bücherlesen war eine selbstverständliche Freizeitbeschäftigung für Jung und Alt, Romane waren das Tor in andere Welten. Jetzt kommt die Welt zu einem ins Wohnzimmer. Alles, was man wissen will, erfährt man sofort über Google, zu jedem Thema findet man mit einem Mausklick unzählige Videos.

Diese Schnelllebigkeit birgt auch eine Gefahr. Die jüngere Generation wächst mit Textschnipseln wie Twitter und SMS, Blog– und Forenbeiträgen auf. Das Medium Internet duldet keine langen Texte, weil die User in kürzester Zeit ein Maximum an Informationen aufnehmen möchten. Die Fähigkeit, einem längeren Text konzentriert zu folgen, könnte darunter leiden. Dabei wird die Bedeutung der Lesekompetenz für den Bildungserfolg in unserer technisierten Gesellschaft eher noch zunehmen.

Ich halte es daher für enorm wichtig, die jüngere Generation für das Bücherlesen zu begeistern. Eine Leseförderung sollte idealerweise, neben dem Elternhaus, bereits im Kindergarten beginnen, mit Besuchen in Bibliotheken, Bibliotheksausweisen für jedes Kind, Schriftstellern zum Anfassen, Büchergutscheinen, Lesewettbewerben, Vorstellungen der Lieblingsbücher, vor der Gruppe oder Klasse. Auch wenn ich im privaten Umfeld die Erfahrung machen musste, dass die Vorbildwirkung lesender Eltern wohl eher begrenzt ist, bin ich überzeugt, dass Kinder auch heute, in Anbetracht vieler konkurrierender Angebote, für das Bücherlesen zu gewinnen sind. Gewiss werden sie ihre Lektüreauswahl nach anderen Kriterien treffen als wir in dem Alter. Weil heute alles frei verfügbar ist, können sie ihren Interessen gezielter folgen. Umfragen zufolge lesen Jungs weniger als Mädchen. Und wenn sie lesen, bevorzugen sie andere Themen. Es ist aus meiner Sicht okay, wenn beispielsweise mein Sohn mit zehn Jahren lieber Comics lesen will als einen 600-Seiten-Roman von Tolstoi. Dafür ist später noch Zeit. Ich glaube, man muss Kindern und Jugendlichen speziell auf ihre Interessen zugeschnittene Angebote machen – mithilfe der Medien, die sie vorrangig nutzen. Ob sie eine Vorliebe für E-Book, Hörbuch, Lesevideo, Blogeinträge entwickeln oder doch lieber zum „altmodischen“ Buch greifen, ist am Ende eine Geschmacksfrage. Worauf es ankommt, ist der Spaß am Leseerlebnis und Wissenserwerb.

Mit welchen Erwartungen sind sie nach Almaty gekommen?

Ich war sehr gespannt, nach über 30 Jahren das Land zu besuchen, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Die Erinnerungen aus dieser Zeit gehören zu den prägendsten im Leben. Schon oft habe ich von anderen Reisenden gehört, dass ich nichts wiedererkennen würde, weil sich alles so rasant und grundlegend verändert hat.

Vielen Dank für das Interview!

Copyright: Goethe-Institut Kasachstan

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