Die größte Stadt Kasachstans Almaty befindet sich in einer von Erdbeben stark bedrohten Region. Dass die Erde wieder beben wird, ist allen bewusst. Die Frage ist nur, wann es wieder so weit ist und wie gut die Stadt darauf vorbereitet ist. Die DAZ sprach mit Experten aus der Seismologie, dem Katastrophenschutz und dem Bauingenieurwesen, um herauszufinden, wie es um die Erdbebensicherheit in Almaty bestellt ist.

Es war der frühe Morgen des 28. Mai, der für das ruhige und beschauliche Kosakenstädtchen Wernij in einer Tragödie enden sollte. Die ganze Stadt wurde wortwörtlich aus dem Schlaf gerissen. Fenster sprangen, Straßen brachen auf, Kirchen und kleine Datschen fielen wie Kartenhäuser in sich zusammen. An diesem Tag im Jahr 1897 fand im heutigen Almaty ein gewaltiges Erdbeben statt, bei dem ein Großteil der Gebäude zerstört und über 800 Menschen unter deren Trümmern begraben wurden. Es war das verheerendste Beben in der Geschichte der Stadt, auf das 1899 und 1911 noch zwei weitere Folgen sollten.

Die Ruhe vor dem Sturm

Für die mittlerweile zu einer Millionenmetropole angewachsene Stadt Almaty lauert auch 124 Jahre später weiterhin die Gefahr unter der Erde. Der Süden Kasachstans gehört zur seismisch aktivsten Zone des Landes und Almaty befindet sich genau in deren Epizentrum. Unterhalb der Stadt verlaufen 20 aktive tektonische Verwerfungen. Spalten in der Erdkruste, von bisweilen 300 bis 580 Metern Breite, die bei Prozessen im Inneren der Erde in Bewegung geraten können und zu dem führen, was unter dem Begriff Erdbeben bekannt ist.

Diese sind aufgrund der seismischen Aktivität in der Oblast Almaty in Höhe der Stärke Neun bis Zehn möglich. Zum Vergleich; das verheerendste Beben, das im Januar 2023 die Türkei und Syrien erfasste, hatte eine Stärke von 7,6. Seit der letzten Katastrophe dieser Art sind 112 Jahre vergangen. Wann ist also mit einem erneuten Unglück zu rechnen?

Unter Beobachtung

Das seismologische Institut des Ministeriums für Katastrophenschutz der Republik Kasachstan beobachtet seit 40 Jahren Erdbeben in der Region Almaty und befasst sich mit genau dieser Frage. Es ermittelte aus den gesammelten Daten einen möglichen Zeitraum für das Gebiet, in dem besonders gefährliche Beben auftreten können. „Ungefähr ließ sich das Auftreten starker Ereignisse alle 120 bis 130 Jahre ermitteln“ so der stellvertretende Direktor des Instituts, Nursarsen Usbekow. Die Gefahr für eine erneute Katastrophe ist somit in den nächsten Jahren durchaus gegeben. Doch Usbekow gibt auch eine Entwarnung: „In diesem Jahr sind keine schweren Erdbeben zu erwarten“.

Kann man ein Beben auf die Sekunde genau vorhersagen? Um diese Frage zu beantworten, bedient sich das Institut mehrerer Prognosen, die jeweils verschiedene Zeiträume abdecken sollen. Einer langfristigen bis zu zehn Jahren, einer mittelfristigen von einem Monat bis zu einem Jahr und einer kurzfristigen für den folgenden Monat.

Aufgrund der drohenden Gefahr erstellt das Institut jede Woche eigens für die Stadt Almaty eine kurzfristige Prognose. Diese Vorhersagen sind jedoch nicht genau. „Es hängt von der Entfernung und Tiefe der seismischen Wellen des jeweiligen Erdbebens ab“, so Usbekow. Doch Beben, die mit Hilfe solcher Methoden vorhergesagt wurden, beschränken sich auf wenige Einzelfälle in China und Griechenland.

In enger Zusammenarbeit mit dem Katastrophenschutz der Stadt Almaty realisiert das Seismologische Institut daher zurzeit einen Plan, um 28 Frühwarnstationen an seismisch sensiblen Zonen aufzustellen. Mit deren Hilfe soll bei dem Eintreffen von Primärwellen (schnellste Wellen, die ein Epizentrum emittiert und die als erste registriert werden) ein Signal gesendet werden, welches innerhalb von 40 Sekunden an die 843 Sirenen der Stadt und an die Katastrophenwarn-App „Darmen“ gelangt. Doch durch die direkte Lage der Stadt über der seismischen Zone ist eine Warnung höchstens wenige Sekunden vor dem Beben möglich. Wie gut ein Frühwarnsystem dabei helfen kann, ist deshalb fraglich.

Wie stabil ist die Millionenstadt?

Was also, wenn es soweit ist? Mit knapp 2,2 Millionen Einwohnern ist Almaty eine der größten Städte Zentralasiens. Tausende Wohnhäuser erstrecken sich entlang der Hänge des Tienschan-Gebirges. Gewaltige Bauwerke und Glaspaläste recken sich gerade in den Himmel empor, während ein reges Treiben die Straßen bei Tag und bei Nacht umspannt. Wie wird sich ein Beben, ähnlich dem von 1897, auf die moderne Metropole auswirken?

Laut dem stellvertretenden Vorsitzenden des Katastrophenschutzes von Almaty, Oberst Samat Asainow, müsste mit fatalen Folgen gerechnet werden: „Es ist möglich, dass bei Beben der Stärke Sieben bis Acht in der Stadt Almaty fast 30 Prozent der Gebäude einstürzen könnten. Die Verluste der zivilen Opfer könnten dabei 380.000 Menschenleben betragen.“ Blickt man auf die monumentalen Glaspaläste in Almatys Innenstadt, ist es wahrlich furchterregend, sich vorzustellen, dass diese in sich zusammenstürzen könnten. Doch wie hoch ist dieses Horror-Szenario wirklich?

Wjatscheslaw Shepel, leitender Ingenieur der Planungsakademie für Architektur und Städtebau „Kazgor“, sieht keinen Anlass zur Sorge: „Hochstöckige, gläserne Komplexe wie „Nurly-Tau“, „Essentai“ und weitere sind mit Berücksichtigung der seismischen Stabilität bis Stärke Neun ausgelegt, weshalb sie bei einem Erdbeben selbst bis Stärke Neun sicher sind. Mit einberechnet sind auch die Befestigungen der gläsernen Fassade, für die zudem gehärtetes und verstärktes Glas verwendet wird.“

Bei einem Beben über der Richterskala Neun muss jedoch mit schweren Zerstörungen in der gesamten Stadt gerechnet werden, stellt Shepel klar. Derzeit existiert weltweit kein Hochhaus, das auf ein Beben der Stärke Zehn und höher ausgelegt ist, womit die Komplexe in Almaty zu den seismisch stabilsten weltweit gehören. Um diese Stabilität zu garantieren, gibt es viele Technologien wie beispielsweise Schwingungsdämpfer. Doch am sichersten sei es, so Shepel, in strenger Einhaltung der vorgegebenen Normen und Konstruktionspläne zu bauen.

Diese Normen gibt das kasachische Forschungsinstitut für Bauwesen und Architektur (KasNIICA) für jedes genehmigte Bauprojekt in Almaty vor. Nach der Tragödie von Wernij wurde eine Karte erstellt, die Gebiete der Stadt kennzeichnet, welche besondere Maßnahmen in Bezug auf die Statik sowie beim Projektieren und Bauen erfordern. Gebäude, die nicht nach diesen Normen errichtet wurden, befinden sich in einer großen Gefahr, im Falle eines Bebens einzustürzen. Dazu gehören baufällige und veraltete Häuser, historische Gebäude, die noch unter anderen Normen projektiert wurden, sowie Privathäuser. Sowjetische Plattenbauten wie die Chruschtschowkas, die einen großen Teil der urbanen Landschaft ausmachen, gelten dagegen als seismisch sicher, wie deren Standhaftigkeit bei Erdbeben in Armenien und Usbekistan bewiesen hat.

Vorbereitet sein, um Leben zu retten

Auch wenn die meisten Bauwerke in Almaty sicher zu sein scheinen, würde ein starkes Beben zwangsweise Zerstörungen und Tote mit sich bringen. Um darauf vorbereitet zu sein, führt das Ministerium für Katastrophenschutz der Stadt Almaty alljährlich Übungen und Vorbereitungen durch, die darauf abzielen, die Rettungskräfte und die Bevölkerung darauf vorzubereiten.

Im Falle eines schweren Bebens ist laut Oberst Asainow die Errichtung von 348 Sammelpunkten für obdachlos Gewordene zur Registrierung, Notunterbringung, Versorgung und Evakuation in sicheres Gebiet vorgesehen. Der Katastrophenplan sieht zudem vor, Einsatzkräfte aus anderen Regionen heranzuziehen, um Rettungsarbeiten und die Beseitigung von Schäden in einem Zeitraum von bis zu fünf Tagen durchzuführen.

Neben wöchentlichen Kursen für Interessenten zum richtigen Verhalten während Notsituationen führt der Katastrophenschutz in Gebäuden Trainings zu verantwortungsbewusstem Handeln während eines Bebens durch. 2022 wurden knapp 3.600 solcher Übungen durchgeführt.
Jährlich findet zudem eine gesamtstädtische Notfallübung statt, bei der die Rettungskräfte mögliche Szenarien durchgehen.

Diese Maßnahmen zeigen, dass man sich in Almaty der drohenden Gefahr durchaus bewusst ist. Es ist nicht möglich, diese Katastrophe zu verhindern. Doch es ist möglich, sich darauf vorzubereiten. Von Frühwarnstationen und Notfallplänen bis hin zum richtigen Planen und Konstruieren neuer Gebäude kann jeder verantwortungsbewusste Schritt Leben retten und so helfen, die Schäden so gering wie möglich zu halten.

Darius Diehl

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