Ein Stück des Regisseurs Jens-Erwin Siemens lässt die Geschichte der Russlanddeutschen in ihren dunkelsten Stunden nachempfinden. Die Darsteller mussten dafür bei den Proben an ihre Grenzen gehen.
Deutsche wohnen in Russland schon lange. Unter Zar Iwan dem Schrecklichen (1533-1584) und später unter Zar Peter dem Großen (1682-1725) kamen viele deutsche Fachleute. Aber vor 250 Jahren, als die Zarin Katharina II. mit ihrem Manifest von 1763 ausländische Bürger nach Russland einlud, um die siedlungsarmen Gebiete landwirtschaftlich zu erschließen, kamen einfache Bauernfamilien.
Das Manifest versprach ausländischen Zuzüglern persönliche und Religionsfreiheiten, Befreiung vom Militärdienst und von allen Steuern, Selbstverwaltung, das Recht, sich an jedem beliebigen Ort des Landes niederzulassen, sowie Unterricht in der Muttersprache. Es klang wie ein Paradies. Hunderttausende Deutsche besiedelten die Gebiete, die ihnen gefielen – an der Wolga, auf der Krim, im Kaukasus. Sie bearbeiteten den russischen Boden und schafften es, positiv zur Entwicklung der russischen Wirtschaft beizutragen. Sie lebten glücklich bis zu dem Moment, als etwas Schreckliches mit ihnen passierte.
Nach dem Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges vermutete man „unter Wolgadeutschen tausende Spione und Diversanten“ des nationalsozialistischen Deutschland. Mit dem Erlass über die Aussiedlung der Deutschen aus den Wolgaregionen wurden alle Deutschen nach Sibirien und Kasachstan deportiert: Männer, Frauen und teilweise sogar Kinder – Menschen im Alter zwischen 15 und 60 Jahren – wurden in die Trudarmee zur Zwangsarbeit einberufen. Ihr Schicksal: Schwere Arbeit bei Frost und Temperaturen von minus 40 Grad, das Leben in Erdlöchern, Hunger, Angst, deutsch zu sprechen, Fremdwahrnehmung als „Faschisten“.
Schauspieler sollten Situationen körperlich nachempfinden
Dem Autor und Regisseur von „Gesalzene Wassermelonen“ Jens-Erwin Siemens war die Thematik russlanddeutscher Geschichte bis vor einem Jahr, als die Arbeit an der Inszenierung begann, nicht bekannt. Als er zum ersten Mal über das dramatische Schicksal der Russlanddeutschen erfuhr, ging ihm dieses Thema nicht aus dem Kopf, gab ihm keine Ruhe. In Kasachstan und Deutschland sprach er mit Zeitzeugen, Angehörigen der alten Generation, Aussiedlern und Politikern über die tragischen Seiten in der Geschichte der Russlanddeutschen.
In Karaganda, Nur-Sultan, Schachtinsk und Almaty interviewte Siemens insbesondere ältere Menschen zu ihren Erfahrungen mit der Deportation. Nach der langen Spurensuche brachte der Regisseur alle Interviews, Zeugnisse der Menschen, Erzählungen der Nachkommen mit. Am 13. November war es dann so weit: Im vollbesetzten Saal des Deutschen Theaters in Almaty feierte die Inszenierung „Gesalzene Wassermelonen“ seine kasachstanische Premiere.
Die drei Schauspielerinnen Sheila Issabekowa, Elisabeth Müller und Margarita Wiesner erzählten mit den Worten der Zeitzeugen, wie Leben und Alltag der Russlanddeutschen in der Verbannung aussahen. Bei der beeindruckenden Entwicklung des Stücks stand das körperliche Nachempfinden der Lebenssituation der deportierten Menschen im Vordergrund, so dass die Theatergruppe etwa bei minus vierzig Grad probte oder im Wald Holz hackte.
Etwas mehr Emotionalisierung hätte gut getan
Schließlich ist ein Dokumentartheater entstanden, bei dem die Aufführungstexte den Aussagen der interviewten Personen entsprechen. Auf der Bühne werden Szenen der Arbeit mit Kohle, des Wohnens im Erdloch oder des Lebens im Wald gezeigt. Die harte und von Armut geprägte Lebenssituation der Menschen entspricht auch dem Bühnenbild, das schlicht gestaltet ist. Nur die Gegenstände, die in den verschiedenen Szenen zum Einsatz kommen, sind dort zu sehen: Kisten, Tücher, Kartons und Eimer.
Das Spiel mit diesen Gegenständen verdeutlicht den Umgang der Menschen mit Vertreibung und Armut. An einer Stelle heißt es: „Wenn man jemanden bestrafen müsste, müsste man ihn dorthin schicken. So ein Ort war das.“ Die einzelnen Szenen werden begleitet von Lichtwechseln, stellenweisem Gesang und Musik. Eine besondere Authentizität bekommt die Inszenierung durch den Wechsel von russischer und deutscher Sprache, besonders aber durch den Einsatz des altdeutschen Dialekts.
Für ein Publikum, dem die Thematik der russlanddeutschen Deportationserfahrungen bereits bekannt ist, wäre an einigen Stellen auch eine stärkere Emotionalisierung wünschenswert gewesen. Nach etwas über einer Stunde gab es stehende Ovationen seitens des Publikums. Das Ensemble von „Gesalzene Wassermelonen“ sollte unbedingt noch einmal nach Kasachstan kommen und andere Städte besuchen.
Ohne Erinnerung keine Menschen, ohne Menschen keine Erinnerung
Die geschichtliche Vergangenheit eines Menschen kennt keinen Konjunktiv. Niemand fragt: „Was wäre, wenn…?“ Das Verlorene kann nicht zurückgegeben werden, die Vergangenheit kann nicht umgeschrieben werden. Die Wahrheit der Geschichte ist, dass die Russlanddeutschen trotz aller Repressionen seitens der Politik als Gemeinschaft überlebt haben, nachdem sie das Fegefeuer des Krieges und der Zwangsumsiedlung durchlaufen hatten.
Es ist ihnen gelungen, eine lebendige Seele und einen kreativen Geist zu bewahren, um zu beweisen, dass sie sich von niemandem unterdrücken lassen. Die Geschichte der Deutschen in Kasachstan wird geschrieben, der Blick in die Zukunft gerichtet und diejenigen geehrt, ohne die es nicht möglich wäre. Die Erinnerung an die Geschichte unserer Großeltern ist die Erinnerung an das Volk. Ohne Erinnerung gibt es keine Menschen, und ohne Menschen gibt es keine Erinnerung.