Essenssuche in Abfällen und keine elterliche Fürsorge – so wuchs Natalie Schröder in den 1990er Jahren in Zentralkasachstan auf. In ihrer kürzlich erschienenen Autobiografie „Die Zacken einer Krone“ verarbeitet sie ihre Schicksalsschläge, die sie als Straßenkind erleben musste. In unserem Gespräch erzählt sie, warum es vor allem der Glaube war, der ihr stets Hoffnung auf ein besseres Leben gab.

Frau Schröder, Sie sind in Kasachstan geboren. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre ersten Lebensjahre dort?

Meine Kindheit war geprägt vom Zerbruch – unter anderem vom Zerbruch der Sowjetunion. Durch die folgenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten entwickelten meine Eltern beide eine Alkoholsucht. Ich war auf mich alleine gestellt: Ich musste mein Essen selbst suchen oder bei anderen darum betteln. Die meiste Zeit verbrachte ich mit anderen Kindern auf der Straße. Eines Tages verstarb meine Mutter an Krebs und ich kam in ein christliches Kinderheim. Dort gab es täglich warmes Essen und Fürsorge – all das, was mir gefehlt hat. Ich als „Niemandskind“ durfte lernen, dass ich jemanden zum Überleben brauche.

„Die hohe Fassade mit vielen Fenstern, der verzierte Zaun mit dem breiten Tor und die sorgfältig gepflegten Grünflächen im Vorhof – mitten im heruntergekommenen Nirgendwo Kasachstans. Umgeben von den dreckigen Straßen des ärmlichen Ortes Saran wirkt das Bauwerk deplatziert. Doch welcher Platz könnte sich für ein Kinderheim besser eignen als zwischen Schmutz und Armut?“ (aus: Die Zacken einer Krone)

Viele Russland- und Kasachstandeutsche erinnern sich gerne an ihr Geburtsland und verspüren auch oft ein Gefühl von Fernweh. Wie ist das bei Ihnen? Welche Gefühle lösen die Gedanken an Kasachstan bei Ihnen aus?

Da ich im Alter von elf Jahren nach Deutschland kam, kann ich mich an einiges aus Kasachstan noch sehr gut erinnern, beispielsweise an die Winter mit viel Schnee, blauem Himmel und Sonnenschein bei frostigen Temperaturen. An das stundenlange Spielen draußen im Freien. Nach der Adoption war ich sogar einige Male wieder in Kasachstan; ich glaube, es ist der Geruch der Luft, den es nur dort gibt, und der viele Emotionen auslöst.

Wie kamen Sie nach Deutschland?

Ich wurde von einem russlanddeutschen Ehepaar aus dem Kinderheim adoptiert, die bereits zwei leibliche Kinder hatten. In dem Heim – das übrigens Preobrashenije, auf deutsch so viel wie Umwandlung, hieß, waren Besucher von weit her keine Seltenheit. Vor allem aus Deutschland.

„Ich dagegen bin nun Gast. Die fremde Bekannte, die Urlauberin aus einem Zuhause, das wir uns damals immer als Schlaraffenland vorgestellt hatten. Das Eldorado unserer Sehnsüchte und Wünsche: Deutschland. Von dort bin ich angereist. (…) »Die Frechste darf nach Deutschland«, hatten die anderen Kinder protestiert. Und sie hatten recht. Ich verhielt mich meist mehr wie eine der Stiefschwestern aus dem Märchen und trotzdem holte ausgerechnet mich der Prinz ins Schloss.“ (aus: Die Zacken einer Krone)

Wie kamen Sie zu Ihrem Glauben und wie half dieser Ihnen, die schwierigen Zeiten Ihres Lebens zu überstehen?

Bevor ich ins Kinderheim kam, lebte ich im Dorf Juschnij im Gebiet Karaganda. Bereits dort hörten wir Geschichten aus der Bibel. Leute erzählten uns Straßenkindern von einem Jesus, der Kinder ganz besonders liebte. Ich interessierte mich für diesen Jesus von damals und machte schnell die Erfahrung, dass es ihn immer noch wirklich gibt und dass er auch mein Leben mit Hoffnung und Sinn erfüllen kann. Ich habe verstanden, dass ich geliebt und angenommen bin. Dass ich vergeben kann, weil mir vergeben wurde. Das Leben ist nicht immer einfach, aber mit einem allmächtigen und liebenden Gott kann ich die schwierigen Umstände überwinden und weitergehen. Diese Hoffnung gibt mir Kraft.

Wann entschieden Sie sich dazu, eine Autobiografie zu schreiben? Welche Reaktionen haben Sie auf Ihr Buch erhalten?

Nach meinem zweiten Besuch in Kasachstan musste ich mir eingestehen, dass es ein Wunder ist, welches Leben ich nun führen durfte. In einem Gebet sagte ich zu Gott, dass er mit meiner Geschichte tun kann, was er möchte, weil er deren Autor ist. Es kamen die ersten Anfragen für unterschiedliche Zeitschriften oder Sendungen. Eines Tages rief mich ein Verlag an und fragte, ob sie über mein Leben eine Biografie schreiben könnten.

Es ist nun zwölf Jahre her, seitdem ich dieses Gebet gesprochen habe; viele Herzen wurden seitdem durch diese Geschichte ermutigt, an Wunder zu glauben, und dass es Hoffnung für ein erfülltes Leben gibt.

Beeinflusst Ihre damalige Kindheit Ihr Leben auch heute noch?

Ich glaube, eine Kindheit beeinflusst unser Leben als Erwachsener immer. Ich versuche, die schönen Erinnerungen aufrechtzuerhalten und dafür dankbar zu sein. Generell denke ich, dass Dankbarkeit ein Schlüssel für ein zufriedenes und glückliches Leben ist.

Manfred Poisel sagte mal: „Der Glaube verleiht Flügel.“ Stimmen Sie zu?

Einerseits stimme ich dem zu, denn ich glaube, oft im Nachhinein ist es der Glaube, der hilft, durch schwierige Momente durchzugehen. Es ist aber auch der Glaube, der uns auf die Knie zwingt, damit wir in unserer Menschlichkeit erkennen, dass nichts in unserer Hand liegt, und dass wir einen Retter brauchen.

Wo stehen Sie heute?

Ich bin mittlerweile 33 Jahre alt und glücklich verheiratet. Wir haben zwei wundervolle Kinder. Ich bin angekommen und kenne meine Identität, die natürlich auch russlanddeutsch geprägt ist: Beispielsweise manche Gerichte wie Gretschka oder Manti sind heute noch ein Bestandteil unseres Speiseplans, mit dem auch unsere Kinder aufwachsen. Ich bin gewollt und geliebt. Mein Leben zeigt das Auf und Ab eines Lebens: Es startete hoffnungslos, aber heute strahlt es!

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Annabel Rosin.

Die Autobiografie ist unter anderem auf scm-shop.de und amazon.de erhältlich.

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