Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat weltweit ungläubiges Entsetzen ausgelöst. Doch wie erleben die Menschen vor Ort die Invasion ihres Landes? Unsere Kollegen vom wochenblatt.pl haben bei Angehörigen der deutschen Minderheit in der Ukraine nachgefragt. Der Artikel erschien zuerst auf wochenblatt.pl, wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Cherson

„Das Schrecklichste ist das Donnern die Kampfflugzeuge“, sagt Julia Bogdan aus Cherson. Die Großstadt im Süden der Ukraine liegt am Fluss Dnipro, nahe der Halbinsel Krim – und sei in den vergangenen Tagen das Ziel zahlreicher russischer Luft- und Artillerieangriffe gewesen, wie die Deutschlehrerin und Leiterin der örtlichen Jugendorganisation der deutschen Minderheit „Partnerschaft“ berichtet. Dabei seien auch von Zivilisten bewohnte Gebäude getroffen worden. Die Städte in der unmittelbaren Umgebung seien zum Teil schon unter der Kontrolle russischer Truppen, Cherson selbst werde von der ukrainischen Armee aber noch gehalten.

„Ich habe zwei Töchter; die Ältere ist 16 Jahre alt und hat aus Angst vor den Bomben die ganze Nacht nicht geschlafen“, erzählt Julia Bogdan, die auch als Dozentin an der Nationalen Technischen Universität in Cherson tätig ist. „Nachts legen wir uns vollbekleidet ins Bett, damit wir im Notfall schnell flüchten können.“ Sie erwartet, dass sich die Zukunft der Ukraine in den nächsten Tagen entscheiden wird. Doch vor dem, was jetzt noch kommen mag, hat sie große Angst. Ihr bleibt nur die Hoffnung. „Es geht hier um unsere Zukunft“, sagt sie noch.

Mukatschewo

Im Westen des Landes, in Transkarpatien, sei die Lage hingegen noch ruhig, erzählt Julia Tayps aus Mukatschewo. Die örtliche Stadträtin ist auch Mitglied des Rates der Deutschen in der Ukraine – und bereitet sich nun auf die Ankunft zahlreicher Binnenflüchtlinge vor. „Viele Menschen sind schon bei uns; wir richten jetzt in der Stadt und im ganzen Gebiet sichere Flüchtlingslager für weitere Ankömmlinge ein. Auch in unserem Büro haben wir eine Unterkunft für 25 Familien bereitgestellt“, berichtet sie. Und fügt hinzu: „Die Situation ist einfach schrecklich. Unser Land ist seit acht Jahren im Krieg, aber so etwas haben wir noch nie erlebt.“

Trotz allem versucht sie optimistisch zu bleiben und nicht in Panik zu verfallen. „Aber wir brauchen die Unterstützung des Westens, sonst sterben wir hier alle“, sagt Julia Tayps nicht ohne eine gewisse Verzweiflung. Mit der vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj angeordneten Generalmobilmachung wurde auch ihr Mann zum Militär eingezogen. Wann er die Familie in Richtung Zentral- oder Ostukraine verlassen muss, war zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht klar. Aber dass er sein Land verteidigen wird, steht außer Frage.

Czernowitz

Etwa 240 Kilometer östlich von Mukatschewo liegt Czernowitz – die traditionelle Hauptstadt der Bukowina. Auch hier sei es noch ruhig, erzählt der dortige Deutsche Honorarkonsul Alexander Schlamp. Das Präsidiumsmitglied des Rates der Deutschen in der Ukraine leitet in Czernowitz eine Fabrik mit mehreren Standorten auch in anderen Landesteilen. Seit einigen Tagen habe er die Produktion gestoppt, damit die Angestellten ob der unübersichtlichen Lage bei ihren Familien sein können. Über Chatnachrichten steht er im ständigen Kontakt mit den lokalen Gesellschaften der deutschen Minderheit in der Ukraine, besonders mit jenen, die in den umkämpften Gebieten ihren Sitz haben.

Der Honorarkonsul berichtet, dass die deutsche Regierung – auf Initiative des Bundesbeauftragen für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Bernd Fabritius – entschieden habe, den Spätaussiedlerbewerbern aus der Ukraine die Prüfung ihres Aufnahmeantrages im mündlichen Verfahren, direkt in der Außenstelle des Bundesverwaltungsamtes in Friedland zu ermöglichen. Doch angesichts kilometerlanger Staus an den Grenzübergängen sei es schon schwer genug, überhaupt in eines der Nachbarländer zu gelangen. Die meisten Angehörigen der deutschen Minderheit würden ohnehin vorerst in ihrer Heimat bleiben wollen, erklärt Alexander Schlamp. Von der westlichen Staatengemeinschaft erwartet er nun schelle Hilfe. „Aber echte Hilfe“, wie er betont. „Denn momentan fühlen wir ukrainische Bürger uns von der Welt alleingelassen.“

Luzk

Olha Tybor lebt in Luzk im Gebiet Wolhynien im Nordwesten der Ukraine, nicht weit von der polnischen und belarussischen Grenze entfernt. Sie findet kaum Worte für die jüngsten Ereignisse in ihrem Land. „Meine Großeltern haben den Zweiten Weltkrieg überlebt und uns gewünscht, dass wir niemals einen Krieg erleben müssen. Was hier gerade passiert, ist einfach unbegreiflich“, sagt sie unter Tränen. „Gestern [am 24.02., Anm. d. Red.] wurde der nahegelegene Militärflugplatz bombardiert. Wir haben die Einschläge gehört und sind innerhalb von ein paar Minuten mit unseren Dokumenten und ein wenig Geld nach draußen gerannt. Die Panik, die wir gespürt haben, kann man nicht beschreiben“, erzählt die junge Frau, die Mitglied des Rates der Deutschen in der Ukraine ist. Momentan seien zwar keine russischen Soldaten in der Stadt, doch man rechne mit dem Schlimmsten. „Wir müssen die kommenden Tage überleben. Und wir hoffen auf die Unterstützung der Ukraine durch die demokratischen Länder – damit schnell wieder Frieden einkehrt“, sagt sie mit brüchiger Stimme.

Odessa

Im Süden der Ukraine, in der ehemals deutschen Siedlung Neuburg (Nowohradkiwka), 35 Kilometer von der Millionenstadt am Schwarzen Meer Odessa entfernt, wohnt Alexander Gross. Der Pastor der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine, der selbst der deutschen Minderheit angehört, betreut in der Gegend vier Gemeinden mit insgesamt etwa 140 Mitgliedern. Am Donnerstag (24.02.) sei er frühmorgens von den Explosionen russischer Raketen geweckt worden, die in ein Brennstofflager und in einen Militärstützpunkt in der Nähe eingeschlagen sind – und zahlreiche Opfer auf ukrainischer Seite forderten. Seitdem habe sich die Lage in der Region aber beruhigt, berichtet er. „Die Gottesdienste am Sonntag werden wie geplant stattfinden. Und auch die samstägliche Sozialküche wird geöffnet sein.“

Für seine Gemeindemitglieder ist der Pastor Tag und Nacht erreichbar – jetzt erst recht. „Aber bisher hat mich noch niemand angerufen. Das zeigt, dass alle Gemeindemitglieder in einem guten Zustand sind und keine große Angst haben“, meint er. Die Moral und der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte machen dem Geistlichen Mut für die nächsten Tage: „Wir kämpfen für unser Land. Aber für was kämpfen die Russen?“

Mariupol

Besonders dramatisch ist die Lage in und um Mariupol in der Ostukraine. Die strategisch wichtige Hafenstadt am Asowschen Meer wird bereits seit mehreren Tagen von russischen Truppen in die Zange genommen. Wie Bernard Gaida, Vorsitzender des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) und zugleich Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten (AGDM) in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN), berichtet, hätten durch die dortigen Bombardierungen auch fünf deutschstämmige Familien ihr Dach über dem Kopf verloren. Man stehe mit den Familien in Kontakt und bemühe sich derzeit intensiv darum, ihnen finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen – damit sie sich wenigstens mit dem Nötigsten eindecken können. Am 1. März fuhr er deshalb nach Berlin, um sich mit Vertretern der AGDM, der Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland sowie des Bundes der Vertriebenen (BdV) darüber abzustimmen, wie man diesen Menschen jetzt schnell, gezielt und unbürokratisch helfen könne.

Russland

Und die deutsche Minderheit in Russland? Wie reagiert sie auf die kriegerische Aggression Wladimir Putins? Am Freitag vergangener Woche (25.02.) veröffentlichte die Selbstorganisation der Russlanddeutschen, der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVDK), auf ihrer Homepage ein Statement, in dem sie sich gegen den Krieg ausspricht. Die russischen Behörden verfügten jedoch umgehend die Löschung des Schreibens. Es ist nunmehr auf der Webseite der AGDM zu lesen (www.agdm.fuen.org).

Lucas Netter, Redakteur bei wochenblatt.pl

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