Maria Gliem aus Frauenwaldau, dem heutigen Bukowice, hat einen Teil ihrer Kindheit als Vertriebene verbracht. Ihre Flucht führte sie nach Hessen, wo vor 70 Jahren die ersten Heimatvertriebenen ankamen. In ihrer heutigen Heimat trägt Gliem dazu bei, dass ihre Erinnerungen an die Zeit in Polen und die Flucht nicht in Vergessenheit geraten. Aus diesem Grund hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. Die DAZ veröffentlicht mit ihrer Erlaubnis Auszüge aus der Niederschrift.

Doch wir haben ebenso etwas Schlimmes erlebt. Nachts gegen 2 Uhr wurden wir von einem merkwürdigen Geräusch geweckt. Wir konnten aber nicht feststellen, was es war und sehen konnten wir auch nichts. Am Tag sind wir dem Geräusch nachgegangen und kamen an die Hauptstraße. Da bot sich uns ein furchtbares Bild. Russische Gefangene wurden in Achterreihen wie Vieh in Richtung Westen getrieben. Sie waren teilweise nur in Decken gehüllt und manche hatten nur noch Lumpen an den Füssen.

Ein paar hatten Brot unter der Decke versteckt und aßen heimlich davon. Ein paar Leute wollten den Russen Wasser geben, wurden aber sofort von den Wachposten weggejagt. Ich weiß nicht, wie lange diese Menschen schon unterwegs waren, aber viele konnten wohl nicht mehr und fielen einfach um. Sie wurden sofort erschossen und einfach liegen gelassen. Da kam Opa und hat uns weggeholt, denn wir standen dort wie erstarrt vor lauter Entsetzten. Bis in die späte Nacht hörten wir Schüsse von der Straße. Viele tausend Menschen müssen das gewesen sein. Anderntags wurden die Toten auf Lastwagen geworfen und weggebracht.

Reissuppe in großer Kanne

Am 9. Februar 1945 bekamen wir die Nachricht, dass wir wieder weiter ziehen müssen, auch wenn wir gern in Bolkenhain geblieben wären. Dort gab es zum ersten Mal seit Anfang des Krieges richtige Kaffeebohnen. Diese Bohnen waren zwar grün, aber es war Kaffee, den wir mit Marken erhielten, von denen jeder Person allerdings lediglich zehn Stück zugeteilt wurden. So gingen wir am Nachmittag zum Bahnhof, Stunde um Stunde verging, aber es kam kein Zug. Um 21 Uhr ging unsere Mutter mit uns Kindern und Opa wieder in die Wohnung zurück. Tante Agnes blieb mit dem Gepäck am Bahnhof zurück. Am anderen Morgen musste der Bahnhof geräumt werden. Tante Agnes hat das Gepäck irgendwo untergestellt und kam zurück. Als wir am Sonntag aus der Kirche kamen, wurde uns gesagt, dass es mit Lastwagen weiter gehen würde. Wir haben schnell etwas gegessen und wollten unser Gepäck holen. Dieses war jedoch bereits auf einem Lastwagen als wir ankamen. Es fiel uns sehr schwer, diesen Ort zu verlassen, denn niemand wusste, wohin es geht.

So fuhren wir mit dem Lastwagen in der eisigen Kälte bis nach Hirschberg (Jelenienia Góra). Unterwegs sahen wir am Straßenrand viele Tote und viel Elend. Am Bahnhof mussten wir alle absteigen und gingen in den total überfüllten Wartesaal. Wir mussten uns erst einmal eine Ecke suchen, in der wir zusammen bleiben konnten. In Hirschberg gab es Reissuppe. Wir hatten eine vier Liter fassende Kanne, in der wir immer Essen holten, wenn es etwas gab. Ich hatte solchen Hunger und ging noch einmal mit der Kanne los, nachdem wir gegessen hatten. Fast zwei Liter Suppe konnte ich zusätzlich ergattern. Ich habe mich draußen hingesetzt und dort alles ausgetrunken. Als ich zu den anderen zurückkam, war ich fast bewusstlos. Man hat mich auf einen Tisch gelegt, erzählte mir meine Mutter. Sie hat mir etwa zwei Stunden lang den Bauch massiert bis ich wieder richtig geatmet habe. Aber die Suppe blieb drin. Ich hatte das Gefühl, zur Zimmerdecke und wieder zurück auf den Tisch zu schweben. Alle hatten Angst, dass mir der Magen platzt. Um

5 Uhr hieß ging es dann wieder weiter. Einige Bekannte halfen uns in den überfüllten Zug hinein, blieben dadurch aber selbst zurück. Wir waren insgesamt acht Personen. Ein Koffer ging dabei verloren. Dieses Mal ging es nach Reichenberg (Liberec).

Maria Gliem

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