Im Gespräch mit Ignaz Lozo

Sein Blick war Richtung Westen und Demokratie gerichtet, er setzte neue Maßstäbe in der Sowjetpolitik, und sein Name war eng mit einigen der wichtigsten politischen Ereignisse wie Glasnost oder Perestroika verbunden. Er leitete die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges ein, wurde für sein Engagement im Jahr 1990 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Doch wie wurde aus Michail Gorbatschow, einem kleinen Jungen aus dem Dorf Priwolnoje im Gebiet Stawropol, einer der mächtigsten Männer der politischen Welt? Wie gestaltete sich sein Werdegang? Und wie entwickelte er sich vom treuen Leninisten und Kommunisten zum westlich denkenden Demokraten?

Mit der Biografie „Gorbatschow. Der Weltveränderer“ legt der Fernsehjournalist und Buchautor Ignaz Lozo ein umfassendes und beeindruckendes Werk vor – über das Leben und den Werdegang eines der bedeutendsten Politiker des 20. Jahrhunderts. Ignaz Lozo beleuchtet für seine Leserschaft nicht nur ein spannendes Lebensbild eines Mannes vor dem Hintergrund der Weltpolitik, sondern schafft es auch hervorragend, einen Einblick in das damalige Zeitgeschehen zu gewähren.

Herr Lozo, warum ausgerechnet Michail Gorbatschow? Wie kamen Sie auf seine Person und was fasziniert Sie an ihm?

Im Gymnasium hatte ich Geschichte als Leistungskurs und musste damals ein Referat über die Sowjetunion machen – das war sozusagen der Türöffner. Später habe ich erfahren, dass man in Germersheim (Außenstelle der Johannes-Gutenberg Universität Mainz) Russisch studieren kann. Als Michail Gorbatschow an die Macht kam, befand ich mich gerade im vierten oder fünften Semester meines Studiums.

Ich habe mich schon immer für Nachrichten interessiert und bereits in Germersheim den Wunsch entwickelt, im journalistischen Bereich zu arbeiten. Ich habe viele sowjetische Tageszeitungen gelesen, da es damals nur sehr wenig Literatur zur Sowjetunion gab. Dabei musste ich viel zwischen den Zeilen lesen. Mir ist damals schon aufgefallen, dass Gorbatschow sich stark zu seinen Vorgängern unterschieden hatte. Mein Interesse an seiner Person war geweckt, und später habe ich mich entschieden, meine Diplomarbeit über die Glasnost-Politik zu schreiben. Nachdem mein Diplom fertig war, begann der Hype um seine Person. Besonders in der DDR war Michail Gorbatschow extrem
populär.

Haben Sie ihn persönlich getroffen?

Ja, ich habe ihn in Moskau öfters getroffen. Im Jahr 2014 war Gorbatschow nach Berlin zu den Feierlichkeiten anlässlich 25 Jahren Mauerfall gereist. Das war seine letzte Auslandsreise. Wir haben uns damals getroffen und ich habe ihn interviewt.
Im Juni 2019 sind meine ersten Aufzeichnungen zu seiner Biografie entstanden. Ich habe ihn diesbezüglich kontaktiert und konnte ihn 2019 noch einmal zu einem Interview persönlich treffen.

Wie gestaltete sich der Recherche- und Schreibprozess?

Wie bereits erwähnt, wurden im Juni 2019 die ersten schriftlichen Aufzeichnungen zu seiner Biografie gemacht. Der eigentliche Schreibprozess dauerte dann ungefähr ein Jahr. Das ist wie ein richtiger VollzeitJob, den man übrigens neben seinen eigentlichen beruflichen und privaten Verpflichtungen erledigt.

Im Laufe der Jahre habe ich ein großes Archiv angesammelt, mit unzähligen Materialien sowie Aufzeichnungen unserer Gespräche. Im Zuge meiner Recherchen habe ich auch sein Heimatdorf Priwolnoje im Nordkaukasus besucht. Dort traf ich eine ehemalige Klassenkameradin von ihm, die sich an viele Ereignisse erinnern konnte. Während meines Aufenthalts in Priwolnoje erfuhr ich eine spannende Anekdote aus seinem Leben.

Während des Krieges wurde das Heimatdorf von Gorbatschow durch die Wehrmacht besetzt. Er hatte damals gerade die vierte Klasse beendet. Während der Besatzung wurde der Schulbetrieb eingestellt. Nach der Niederlage bei Stalingrad zog sich die Wehrmacht aus dem Gebiet zurück, die Schule wurde wieder in Betrieb genommen, doch Michail Gorbatschow blieb dem Unterricht zunächst fern.

Sein Vater war damals an der Front, seine Mutter konnte weder lesen noch schreiben. Wenn Briefe vom Vater kamen, musste Michail diese seiner Mutter vorlesen – und sie hatte ihrem Sohn die Antworten diktiert. Obwohl Michail Gorbatschow die Möglichkeit hatte, die Schule wieder zu besuchen, bestand seine Mutter nicht darauf. Vermutlich meinte sie, dass vier Jahre Schulbildung ausreichen würden.

Gorbatschow blieb dem Unterricht fern, doch ganz untätig war er nicht. Der junge Michail hatte sich bei der Kolchose ein Pferd geliehen und trug Briefe im Dorf aus. Er wollte nicht zur Schule gehen, weil er einen unheimlichen Spaß daran hatte, als Postbote zu arbeiten.
Als ich nach dieser Reise Gorbatschow besucht und ihn auf diese Geschichte angesprochen habe, antwortete er mir darauf typisch „pogorbatschowski“ – auf seine typische Gorbatschow-Art. Plötzlich duzte er mich und sagte: „Schreib alles, was du in Priwolnoje gehört hast.“ Daher floss diese Anekdote aus seinem Leben in das Buch ein.

Am 2. März dieses Jahres wurde Michail Gorbatschow 90 Jahre alt. Für viele ist er nach wie vor eine widersprüchliche Figur, viele bewundern ihn aber auch für seine Leistung und vor allem für seine Menschlichkeit. Immer wieder wird auch die bedeutende Rolle seiner bereits verstorbenen Frau Raissa in seinem Leben hervorgehoben.

Raissa war für Gorbatschow in der Tat eine große Stütze – privat und auch politisch. Sie führten eine besondere und bemerkenswerte Beziehung auf Augenhöhe. Michail Gorbatschow hat im Laufe seiner politischen Karriere zwar Fehler zugelassen – wie jeder Politiker, aber er hat auch viele grundlegende Veränderungen bewirkt – nicht nur für die Menschen in der Sowjetunion, sondern auch weit über ihre Grenzen hinaus.

Vielen Dank für das Gespräch.

Katharina Martin-Virolainen

Ignaz Lozo ist ein deutscher Historiker, Journalist sowie Buch- und Filmautor. Er studierte Russisch und Englisch mit Nebenfach Rechtswissenschaften in Germersheim und absolvierte anschließend ein zweijähriges Aufbaustudium in Journalistik in Mainz, an der Johannes-Gutenberg Universität. 2013 promovierte Lozo am Historischen Seminar der JGU Mainz. Ignaz Lozo war als Redakteur und Korrespondent bei ZDF, ProSieben sowie Deutsche Welle TV in München, Mainz und in Moskau tätig. Im Jahr 2010 produzierte Ignaz Lozo den Do-kumentarfilm „Die Russlanddeutschen – Auf der Suche nach Heimat“, der auf dem Sender Phoenix ausgestrahlt wurde. Ignaz Lozo ist Autor mehrerer Bücher und Dokumentarfilme. Im Januar 2021 veröffentlichte er im wbg Theiss Verlag in Darmstadt die Biografie von Michail Gorbatschow unter dem Titel: „Gorbatschow. Der Weltveränderer“. Sein Werk gilt als die erste deutsche Biografie von Gorbatschow, die einem wissenschaftlichen Anspruch genügt.

Mehr Informationen zu Ignaz Lozo findet man auf seiner Homepage unter: www.ignaz-lozo.de

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