Der Titel verrät es bereits: In Elina Penners erstem Sachbuch, das im September dieses Jahres im Aufbau-Verlag erschien, geht es um migrantische Mütter in Deutschland – im weitesten Sinne. Worum es noch geht? Von Hausschuhen, Essensgerüchen bis hin zu verschiedenen Glaubenssätzen und Diskriminierung ist alles dabei. Die persönlichen Wahrnehmungen untermauert Penner mit einer Menge Fakten, Wut und Humor.

Die Autorin Elina Penner ist 1987 als Sowjetbürgerin geboren und mennonitisch-plautdietsche Deutsche. 2022 erschien ihr Roman Nachtbeeren. Mittlerweile lebt sie wieder in ihrer ostwestfälischen Heimat. Als Mutter beschreibt sie in Migrantenmutti Alltagssituationen und eigene Beobachtungen aus migrantischer Perspektive und zeigt dabei auf, wie politisch diese sind. Ihre Essays lesen sich dabei sowohl als ein Dankesbrief an Eltern mit Migrationshintergrund – solche aus der sogenannten „Arbeiterschicht“ und Alleinerziehende – als auch als Appell an „Eltern der gutverdienenden Mittelschicht“.

Das Inhaltsverzeichnis der 20 Essays gibt bereits einen guten Überblick, was Penner darin thematisiert: unter anderem „Kusengs“, Mikrowellen und Fernsehen. „Ich finde, ein bestimmter Teil nicht-migrantischer Eltern macht es sich unnötig schwer. Ich habe ein paar Theorien, warum das so ist. Ich finde auch, dass wir Migras es anders schwerer haben und hatten – und es deshalb als Eltern ‚leichter‘ haben wollen“, so ihre Kernaussage. Mit viel Humor beschreibt Penner in ihren Essays, welcher „Extra-Migra-Kram“ hinzukommt, und eins ist sicher: Die Liste ist lang.

Inmitten der Klassengesellschaft

Penner verbindet Fakten mit persönlichen Geschichten und beschreibt die Verschränkungen von Migration und Klassismus, zum Beispiel da migrantische Familien statistisch gesehen häufig weniger Geld haben. „Ich kenne keine Russlanddeutschen, die hier mit einem Koffer voll Geld angekommen sind. Vererbt werden hauptsächlich Traumata und Schubarezepte“, so Penner.

Buchcover ©Aufbau Verlage

Doch Klassenunterschiede äußern sich nicht nur entlang von Geld. Die Autorin deckt entlang von Alltagsgegenständen und -handlungen, die für manche zunächst banal wirken mögen, auf, wie sehr Klasse in vielen Lebensbereichen eine Rolle spielt: Von Fernsehen, Süßigkeiten bis hin zu Einschulung beschreibt sie die feinen Unterschiede, die sie insbesondere im Laufe ihrer Kindeserziehung bemerkt. Manchmal sind es hingegen einfach kulturelle Unterschiede, die sie mit viel Humor auf den Punkt bringt: „Es ist so unvorstellbar für Migras, dass einem Kind kein Essen angeboten wird, wenn es Essen gibt, dass ich Angst habe, es älteren Migras zu erzählen, aus Angst, sie würden an einem Herzinfarkt sterben“.

Soziale Herkunft ist ausschlaggebend

Arbeit spielt natürlich eine ausschlaggebende Rolle, wenn es sowohl um Klasse als auch um Kindererziehung geht: „als ich in den 90ern aufgewachsen bin, kann ich mich kaum an Mütter erinnern, die arbeiten gegangen sind. Außer natürlich meine eigene. Und meine Großmutter. Und meine Tanten. Und die Freundinnen meiner Mutter. Wenn ich von ‚arbeiten gehen‘ spreche, meine ich nicht in Teilzeit in einem kuscheligen Büro“.

Penner bringt deutlich auf den Punkt, wie viel belastender Kindererziehung ist, wenn beide Elternteile in Vollzeit arbeiten müssen oder gleich mehrere Arbeitsstellen haben. Häufig leisten migrantische Mütter dabei Arbeit, die ansonsten niemand verrichten möchte, etwa als Putzkraft oder Altenpflegerin. Penner kann sich deshalb nur wenig mit Berlins Mama-Bloggern identifizieren, deren Hauptprobleme zuckerfreie Ernährung und der perfekte Schulranzen darstellen, und denkt, so geht es bestimmt vielen Migrantenmuttis.

Was so politisch an Elternschaft ist, zeichnet sich dadurch in Penners Essays deutlich ab. Nämlich, dass nicht allen Kindern in Deutschland die gleichen Möglichkeiten gegeben werden und soziale Herkunft dabei ausschlaggebend ist. Wie Armut nicht als strukturelles Problem, sondern vermeintliche Faulheit betrachtet wird, analysiert sie beispielsweise in ihrem Essay zu der RTL2-Doku Soap Frauentausch. „Es ist zu einer eigenen Unterhaltungssparte geworden, am Elend von anderen teilzuhaben und ihnen Schuld zu geben für ihre Situation“, so Penner. Pointiert erklärt sie in Migrantenmutti, warum Armut deutlich komplexer und systemisch ist.

Auch russlanddeutsche Identität spielt eine Rolle

Ihre russlanddeutsche Identität lässt Penner an mehreren Stellen des Buchs einfließen. „Ich teile das gleiche Schicksal wie alle Russlanddeutschen: Begrifflichkeiten und Historie machen keinen Unterschied, für die Welt da draußen bin ich Russin, vielleicht manchmal auch Deutschrussin. Immer mal wieder wird auch irgendwas mit Wurzeln ergänzt“, beschreibt sie eine Erfahrung, die wahrscheinlich alle Russlanddeutschen teilen. Sie spricht davon, wie schwer es ist, Kultur, Sprache und Werte in der Diaspora zu wahren, aber auch von Stereotypen, und was diese mit sich bringen: „Meine Leute haben ja gelernt, nicht aufzufallen, still zu sein, die perfekt integrierten Russlanddeutschen; dafür wurden wir oft gelobt, fürs Stummsein“.

Aber es geht nicht nur um Russlanddeutsche, sie zieht Vergleiche zwischen migrantischen Gruppen in Deutschland und zeigt Unterschiede auf. In ihrem Essay Feuer geht sie auf die vielen Brandanschläge in Deutschland ein, die deutsche migrantische Geschichte überschatten. „So lange ist das alles gar nicht her. 1991 bin ich in Deutschland angekommen, im gleichen Jahr starb Samuel Yeboah bei einem Brandanschlag in Saarlouis. Der Prozess läuft jetzt, im Mai 2023, über 30 Jahre später“.

Scham als häufiges Gefühl

So verarbeitet Penner in ihren politisch-satirischen Texten einige Gefühle, die sie als migrantische Mutter begleiten. Zum Beispiel Wut „über Wahlergebnisse, Mord, die Unfähigkeit der Gesellschaft, sich an Morde zu erinnern, ihrer zu gedenken oder sie überhaupt aufzuklären, Wut darüber, wie sie über unsere Brüder, Väter, Cousins und Onkel reden, wie unsere Schwestern, Mütter, Cousinen und Tanten in den Medien gezeichnet werden“.

Auch Scham beschreibt Penner als Gefühl, welches viele Personen mit Migrationserfahrung nur zu gut kennen: „Die Erinnerung an die Scham bleibt, denn wenn du ein Migra-Kind bist, willst du einfach nur dazugehören. Also fängst du an, dich auch für die Sachen zu schämen, die du eigentlich liebst. Deine Verwandten, das Essen, das sie kochen, die Sprache. Das Essen des Herkunftslandes wird zum Akzent, den man riechen kann.“

Stolz statt Scham

Damit soll jetzt Schluss sein, beschließt Penner. Bei der Lektüre ihrer Essays begleiten die Leserinnen und Leser ihren Weg, sich frei zu machen von der Scham, weniger darauf zu achten, was die Mehrheitsgesellschaft von ihr hält. Sie spricht ehrlich und offen über ihre Gedankengänge und welche Schlüsse sie daraus zieht: „es war der Tag, an dem ich ausatmete und beschloss, nie wieder die salzfreien Bio-Brezeln zu kaufen. Ich ging in den Mix-Markt und besorgte Suschki. An dem Tag ging es los.“

Penner berichtet offen von ihrem Hadern mit Zugehörigkeit, vom Mutter-Sein als Studentin und davon, wie sie keine Rücksicht mehr nehmen möchte auf Menschen, auf dessen Schultern all diese zusätzlichen Probleme nicht lasten. Bis sie zuletzt an einem anderen Punkt angelangt. „Es hat sich ein anderes Gefühl breitgemacht, das die Scham ersetzt hat: Stolz.“

Penner spricht sicherlich nicht nur Migrantenmuttis an vielen Stellen aus der Seele. Sie schafft es, große gesellschaftliche Herausforderungen und Themen miteinander zu verweben, uns an eigenen Reflektionsprozessen teilhaben zu lassen und selbst zur Auseinandersetzung aufzufordern. Eine Lektüre lohnt sich also – egal, welchen sozialen Hintergrund die Leserin oder der Leser hat. „Weil der migrantische Blick auf Deutschland auch der Mehrheitsgesellschaft neue Facetten ihres Landes näherbringt. Nein, ihr müsst nicht Faust oder Kabale und Liebe lesen, um etwas über Deutschland zu verstehen, aber Dschinns oder Der Russe ist einer, der Birken liebt könnten helfen“ – wer seinen Horizont erweitern möchte, kann das mit Migrantenmutti getrost tun.

Ob man das Buch der eigenen Migrantenmutti schenken möchte, sei erstmal dahingestellt. Das Buch ist an vielen Stellen etwas sozialwissenschaftlich-akademisch und steckt voller Anglizismen. Daher ist es bestimmt nicht für alle potenziellen Leserinnen und Leser eine leichte Lektüre.

Sasha Borgardt

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