Die Geschichte des sowjetischen Straflagersystems ist Teil meiner eigenen Familiengeschichte. Meine Ururgroßväter mütterlicherseits wurden 1941 als Russlanddeutsche aus der Ukraine nach Nordkasachstan deportiert, bei der Ankunft in Karaganda verhaftet und ins KarLag gebracht. Einer von ihnen, Abraham Löpp, starb drei Jahre später im Lager – woran oder wann genau, ist bis heute unklar.
Mein Versuch, Licht ins Dunkel zu bringen, war nur teilweise erfolgreich. Schon die Auskunft über Namensverzeichnisse oder Karteikarten von Häftlingen erwies sich als schwierig. Mitarbeitende des Zentrums für Rechtsstatistik, welchem das Behördenarchiv Karagandas (also auch das Archiv des KarLag) untersteht, verwiesen mich darauf, dass die Kartothek nicht öffentlich zugänglich sei – obwohl schon über die Griffnummer der Häftlingsakte alle durchlaufenden Stationen der Häftlinge ermittelt werden können. Außerdem könnte der Name meines Ururgroßvaters in unterschiedlichster Weise notiert worden sein, sodass sich nicht genau abgleichen lässt, ob es sich auch um die gleiche Person handelte.
Allerdings kann bei Vorlage von Geburts- oder Heiratsurkunden der Zugang zu diesen Informationen erleichtert werden. In unserer Familie gibt es aber nur einen Stammbaum, für dessen Nachverfolgung meine Mutter selbst recherchieren musste – und das konnte sie auch nur mithilfe lückenhafter Erinnerungen meiner Verwandten.
Als meine Eltern nämlich 1993 nach Deutschland einwanderten, trugen sie bloß zwei Leder- und einen kleinen Geigenkoffer bei sich. Offizielle Dokumente über das Verbleiben meiner Vorfahren wie Rehabilitationsbriefe hatten dort keinen Platz und auch keine Priorität. Trotz der fehlenden Dokumente beschloss ich, nach Karaganda zu reisen und das Museum für die Opfer politischer Repression im nahegelegenen Dorf Dolinka zu besichtigten.
Industrielles Zentrum der Sowjetunion
Das KarLag – kurz für Karagandinskij Lager – war laut Alexander Solschenizyn die größte Provinzhauptstadt des Archipel GULag. Das Lager erstreckte sich insgesamt etwa 200 Kilometer in die Breite und 300 Kilometer in die Länge und war in fünf Abteilungen geteilt: Kohleabbau, Wohnungsbau, Wiesenlager, Sonderlager und ein Frauen- und Kinderlager, in denen die Ehefrauen und Familien von sogenannten „Heimatlandverrätern“ lebten. Im KarLag kamen zwischen 1930 und 1959 bis zu 1.500 Kinder zur Welt. Schätzungen zufolge lebten während dieser 29 Jahre insgesamt fast eine Million Menschen im Lager. Bei den meisten Häftlingen handelte es sich um enteignete Groß- und Mittelbauer, später kamen politische Gefangene und Deportierte hinzu.
Während des Zweiten Weltkriegs mussten dort außerdem deutsche und japanische Kriegsgefangene Zwangsarbeit verrichten. Das KarLag entwickelte sich in kürzester Zeit zu einem der industriellen Zentren der Sowjetunion und versorgte mit der Herstellung von Lebensmitteln, Kleidung und anderen Waren ganz Nordkasachstan. Besonders das hohe Kohlevorkommen in der Region führte dazu, dass das Lager nicht nur als temporäre Baustelle, sondern als langfristige Einrichtung geplant wurde.
„Im KarLag waren viele Deutsche“
12 Stunden lang fuhr ich mit dem Nachtzug von Almaty nach Karaganda. Während der schlaflosen Fahrt beschäftigten mich viele persönliche Fragen: Was ist mit meinem Ururgroßvater geschehen? Wie war sein Leben im GULag und in welchem Bereich musste er arbeiten? Starb er wirklich 1944? Erlag er einer Krankheit oder wurde er erschossen? Gleichzeitig fragte ich mich, wie Kasachstan als postsowjetisches Land heute mit der Erinnerung an das sowjetische Straflagersystem umgeht: Wie werden hier historische Ereignisse verarbeitet? Wie genau funktioniert kasachische Geschichtspolitik? Welche Zielgruppe spricht das Museum an und welche Emotionen sollen bei der Besichtigung hervorgerufen werden?
Am Tag darauf kaufte ich ein Busticket nach Dolinka. Der Busfahrer beäugte mich interessiert, als ich ihm sagte, dass ich zum KarLag wolle. „Woher kommen Sie?“ fragte er mich. „Aus Deutschland.“ Er nickte verständnisvoll. „Im KarLag waren viele Deutsche.“ Ich seufzte und sagte leise: „Und mein Ururgroßvater war einer von ihnen.“
Der Busfahrer rief einen Freund an, der mich an der Haltestelle abholen und bis zum Museumsgebäude bringen sollte. Da saß ich nun auf dem Beifahrersitz eines kleinen LADAs, auf der Rückbank drei junge Männer dicht an dicht, während uns Alexander – ein etwa 60-jähriger Belarusse – über die staubige, ruckelige Landstraße fuhr. Quietschend hielt das Auto vor dem Museumsgebäude. Die Sonne kam langsam hinter den Wolken hervor, Vögel zwitscherten, und ganz sanft wehten einige Bäume im Wind, die Luft war trocken. Alexander wünschte mir viel Kraft und winkte mir zum Abschied.
Leid und Elend im Lager
Das Gebäude, in dem sich heute die Dauerausstellung des Museums befindet, war früher das Verwaltungszentrum des Lages. Der Brunnen auf dem Vorplatz und vier hohe Eingangssäulen erwecken einen fast schon einladenden Eindruck. Ich schaute mich um: keine Zäune, kein Stacheldraht, kein grauer Himmel – Assoziationen, die ich schnell abschütteln wollte. Ich atmete tief ein und ging hinein.
Die zweistündige Führung durch die Ausstellung weckte eine Vielzahl an Gefühlen in mir: Unverständnis, Fassungslosigkeit, Verwirrung, Angst, Wut und Unbehagen. Wir bewegten uns in schwachem Licht und in dunklen, beengten Räumen mit niedrigen Decken. In jedem Raum klang dumpfe Musik, um die unangenehme Atmosphäre zu untermalen. In den Kellerräumen waren sogar leise Herzschläge aus den Boxen zu vernehmen, die Enge und Anspannung demonstrierten. Menschengetreue Puppen, die Gefangene und Lagerverwalter bei alltäglichen Handlungen darstellten, trugen zu dieser Stimmung bei. Sie sollten eine realitätsnahe Ahnung von dem hervorrufen, was in den Jahren an diesem Ort vorgefallen war. Die Ausstellungspuppen trugen passende Kleidung, hatten leidvolle oder strenge Gesichtsausdrücke, und ihre Körperhaltungen verrieten, wie groß das Elend derjenigen war, die im Lager inhaftiert waren.
Einen Versuch ist es immer wert
Jeder Ausstellungsraum fokussiert auf ein Themengebiet zur Geschichte des KarLag: Zwangsarbeit, physische und psychische Folter, Zerstörung von Familien, Hunger und Zwangsumsiedlungen von indigenen Nomaden sowie ethnischen Minderheiten im gesamten Sowjetgebiet. Dabei stellen Gemälde, szenische Ausstellungsstücke und Hintergrundgeräusche wie das Tuckern eines Zuges eine künstliche Erfahrung her. „Stellen Sie sich vor“, sagte die Mitarbeiterin, die uns durch das Museum führt, „tagelang ohne Wasser oder Brot in einem überfüllten Viehwaggon zu stehen, nicht zu wissen, wohin er fährt“. Die Besucher schluckten schwer. „Häftlinge konnten jahrelang nur Wassersuppe zu sich nehmen. Da traut man sich gar nicht mehr, das Essen in der Schulmensa zu kritisieren, oder?“ Schnalzend schaute sie ein 14-jähriges Mädchen an, welches das Museum gemeinsam mit ihrer Mutter besuchte. Solche Nebensätze erfüllen die Funktion, unangenehme Emotionen zu erzeugen; Scham, Bedauern und Ekel bleiben besser im Gedächtnis als bloße Fakten.
Die Reise nach Karaganda und der Besuch im Museum beantworteten viele meiner Fragen, warfen allerdings ebenso neue auf. Ich erzählte der Mitarbeiterin nach der Führung von meiner Familiengeschichte und wir tauschten uns aus. Denn auch sie hatte Verwandte, die im KarLag umkamen. Sie zeigte mir ein Verzeichnis, in dem ich den Namen meines Ururgroßvaters, das Jahr seiner Verhaftung und das seines Todes eintragen konnte. Ich hinterließ meine Kontaktdaten, damit ich benachrichtigt werden konnte, falls Dokumente über sein Leben im Archiv auftauchten. Nachdem ich mich für ihre Hilfe bedankt hatte, dämpfte sie meine Erwartungen allerdings. „Wenn bei der Öffnung der Archive in den 1990er Jahren nichts gefunden wurde, dann ist es unwahrscheinlich, dass wir heute noch etwas zu Ihrem Ururgroßvater finden. Einen Versuch ist es trotzdem wert.“