Tommy Jähnigen unterstützt Chefcoach Aleksey Shpilevski als Co-Trainer bei Kairat Almaty. Im Gespräch mit der DAZ erzählt er, was den neuen Spielstil ausmacht, mit dem die Almatiner Gipfelstürmer die Premjer Liga aufmischen.
Fußball ist beliebt, auch in Kasachstan. Doch fragt man Kasachen im Alltag nach ihrer Lieblingssportart, nennen vermutlich weit weniger Menschen als in Deutschland oder gar England den Ballsport. Zu groß ist hier die Konkurrenz durch das Boxen und andere Kampfsportarten. Trotzdem sorgte das, was sich in der kasachischen Premjer-Liga vor zwei Wochen zutrug, landesweit für Aufsehen – auch wenn es freilich nicht unerwartet kam.
Tabellenführer Kairat Almaty empfing an jenem 3. November Ordabassy Schymkent im heimischen Zentralstadion. Eigentlich kein absolutes Topspiel wie jene gegen den Dauerrivalen FC Astana aus der Hauptstadt. Erst recht nicht in Coronazeiten vor leeren Rängen. Und doch bedeutete der Schlusspfiff von Schiri Sergei Gorochowadizki für die Kicker von Kairat den größten Erfolg der jüngeren Vereinsgeschichte: Mit dem 3:1-Sieg machte ihre Mannschaft den ersten Meistertitel seit 16 Jahren klar. Und das fünf Spieltage vor Saisonende – so groß war zu dem Zeitpunkt der Punktevorsprung auf die Konkurrenz.
Nach fünf Jahren vom Thron gestoßen
Fußball-Statistiker dürften sich verwundert die Augen reiben. Fünf Jahre lang, von 2015 bis 2019, war die Meistertrophäe de facto für den Hauptstadtklub Astana reserviert, auch wenn es mitunter knapp zuging an der Tabellenspitze. Vergangene Saison etwa hatte Almaty nur ein Pünktchen gefehlt. Dass der Klub der südlichen Hauptstadt dem der nördlichen diesmal so weit enteilt war – ein Novum. Doch der neue Erfolg des Traditionsklubs hat seine guten Gründe. Einer der wichtigsten ist – neben der Leistung der Spieler selbst – das Wirken des Trainerteams um Chefcoach Aleksey Shpilevski. Der kam vor zwei Jahren aus Deutschland nach Almaty und brachte gleich eine ganz eigene Spielphilosophie mit, die nun durchschlägt.
Shpilevski war zuvor fünf Jahre Jugendtrainer bei RB Leipzig, das inzwischen fest zum Spitzenquartett der deutschen Bundesliga gehört und auch international für Furore sorgt. Weil Almaty-Boss Kairat Boranbajew der schnelle, mitreißende Spielstil der „Roten Bullen“ gefiel, wünschte er sich Elemente davon auch für seine Mannschaft. Er erkundigte sich bei Ralf Rangnick, seinerzeit Sportdirektor bei RB, nach einem passenden Trainer dafür. Rangnick nannte Shpilevski, der kurz darauf einen Anruf von Boranbajew bekam und zusagte. Doch der 32-Jährige kam nicht allein, sondern brachte gleich sein ganzes Team aus Deutschland mit – Leute, denen er „blind vertrauen“ kann, wie er in einem Interview mit kicker.de sagt.
Von Leipzig nach Almaty
Zu den Leuten, denen Shpilevski blind vertrauen kann, zählt zweifelsohne Tommy Jähnigen, sein Co-Trainer. Der gebürtige Riesaer hatte zwar nie geplant, als Trainer im Profibereich zu arbeiten. Als sich 2018 die Gelegenheit zu einem Auslandsabenteuer bot, zögerte er dennoch nicht lange. „Aleksey fragte, ob ich mitkommen will, und ich dachte mir: Klingt eigentlich gut, kann man mal probieren.“ Seine Partnerin war damals ohnehin beruflich im Ausland, und weder Kinder noch ein Haus banden ihn an die heimatliche Scholle. Zudem hatte er mit Shpilevski schon mehrere Jahre gut zusammengearbeitet. Die beiden kennen sich, weil auch Jähnigen bei RB Leipzig angestellt war – zunächst im Kinder– und Jugendbereich, später bei den Frauen.
Die Spielphilosophie, für die die Bullen stehen, ist ihm dadurch bestens vertraut. „Schnelles Umschalten nach Ballgewinn, schnell das Tor attackieren; den Gegner steuern, wenn wir verteidigen, und aktiv den Ball erobern; immer aktiv und präsent sein und Stress auf den Gegner ausüben.“ Allerdings, so Jähnigen, sei das in Kasachstan nur bedingt umsetzbar, weshalb das Trainerteam den Spielstil etwas anpassen musste. „Wir haben hier mitunter 70 bis 80 Prozent Ballbesitz und können deshalb nicht einfach nur schauen, was der Gegner macht, wenn er den Ball hat, sondern wie wir selbst mit unserem Ballbesitz umgehen.“ Andererseits profitiere man bei der Umsetzung davon, dass die Gegenspieler in Kasachstan in ihren technischen Möglichkeiten limitierter seien. Sie ließen sich so schneller zu Ballverlusten drängen.
Bei Kairat Almaty sind Mentalitätsmonster gefragt
Für das Spiel, das Shpilevski und seine Mannen dem Team abverlangen, ist jedoch neben technischem Können noch etwas Anderes entscheidend. Marco Reus prägte dafür in der vergangenen Saison zornig das Wort „Mentalitätsscheiße“, nachdem sein BVB mal wieder in der letzten Minute den Ausgleich gegen einen vermeintlich schwächeren Gegner kassiert hatte. Gemeint ist die Gier, der unbedingte Siegeswille, die Bereitschaft, für sein Ziel bis ans Ende seiner Kräfte zu gehen, bis zum Schluss das physische Niveau hochzuhalten und konzentriert zu bleiben, und: laufen, laufen, laufen.
Video: Kairat TV
Bei der Kaderplanung zu Beginn der Saison achtete das deutsche Trainerteam darauf, die Geschlossenheit der Mannschaft zu stärken. Die genannten Mentalitätsspieler bekamen Vorrang. Das brachte auch mit sich, dass bislang scheinbar unantastbare Mannschaftsinstanzen nicht mehr unantastbar waren. Auch kasachische Nationalspieler, die bereits seit sechs Jahren für den Klub spielten, konnten sich ihres Stammplatzes nicht mehr sicher sein, wenn sie nicht bereit waren, die taktischen Anweisungen des Trainers umzusetzen oder mit der geforderten Einstellung voranzugehen.
Vereinzelt ging ein Murren durchs Team, bis die Ergebnisse dem Trainerteam Recht gaben. „Die Jungs haben dieses Jahr alles extrem gut umgesetzt, weil sie gesehen haben, dass es funktioniert“, sagt Jähnigen daher mit Bewunderung für die Mannschaft von Kairat Almaty. „Und weil es Typen waren, die Bock hatten zu laufen, alles zu geben, und die bis zum Ende dran geglaubt haben.“
Späte Tore als Qualitätsmerkmal
So kam es, dass diese Saison mehrere Spiele eben nicht verloren gingen, wenn die gegnerische Mannschaft lange in Führung lag. Dass Kairat manche Begegnung erst kurz vor Schlusspfiff mit einem späten Tor für sich entschied. Und so letztlich wichtige Punkte im Kampf um die Meisterschaft verteidigte, die die Konkurrenz liegen ließ. Dass es sich bei dem Phänomen – in Deutschland auch als „Bayern-Dusel“ bekannt – um Glück handelt, glaubt Jähnigen nicht. Es sei ein Qualitätsmerkmal, wenn ein Team bis zur letzten Sekunde körperlich und im Kopf fitter sei als der Gegner. „Der macht dann irgendwann den entscheidenden Fehler.“
Der Sachse sieht hier auch ein generelles Problem in der Entwicklung von Fußballern. Junge Talente würden zwar insbesondere in Europa hervorragend ausgebildet. Am Ende seien aber Trainingsfleiß und Disziplin entscheidend dafür, ob man den Sprung in den Profifußball schaffe oder nicht. Vielen sei das nicht klar. Der kasachische Fußball ist dagegen generell im Bereich Jugendarbeit noch sehr weit vom europäischen Niveau entfernt. Weil die Klubs in staatlicher Hand sind und finanziell vom Budget ihrer Stadt abhängen, steht dafür kein Geld zur Verfügung. Das Gleiche gilt für den Ausbau oder zumindest Erhalt von Infrastruktur für Trainingsbetrieb, Regeneration und Fanbetreuung. Stattdessen wird das Budget meist nur in Spielertransfers gesteckt.
Kairat Almaty bietet seinen Spielern Top-Infrastruktur
Jähnigen spricht sich dagegen für das Prinzip „Steine vor Beine“ aus: erst Infrastruktur und Nachwunschakademien, dann neue Spieler. Mit Kairat als einzigem privat geführten Klub in der kasachischen Premjer-Liga hat er dabei Glück gehabt. Weil hier in den vergangenen Jahren kräftig investiert wurde, verfügt der Verein über zwei beheizte Rasenplätze, einen Kunstrasenplatz, eine Halle mit Großfeld und Kunstrasen, ein Fitnessstudio, zwei Saunen, großen medizinischen Bereich und einen Pool. Jugendliche Talente aus dem ganzen Land werden in der eigenen Akademie ausgebildet. „Davon können selbst in Europa viele Mannschaften nur träumen“, schwärmt Tommy Jähnigen.
Video: Вести Спорта
Konkrete Pläne für die Zeit nach dem Vertragsende in einem Jahr kann Jähnigen noch nicht nennen. Almaty findet er eine „coole Stadt“, ihm gefällt die Nähe zur Natur. Sitzt er in seinem Lieblingscafé, kommen die Kellner vorbei, um ihn persönlich zu begrüßen – coronakonform, mit Ellbogen, versteht sich. Zugleich vermisst er es, Freunde aus der Heimat zu treffen und mit ihnen selbst einmal eine Runde zu kicken.
Wenn der Höhenflug von Kairat Almaty anhält, kann der Riesaer vielleicht nächstes Jahr einmal mehr in die sächsische Heimat reisen. Die Mannschaft müsste dafür nur alle drei Runden der Champions-League-Qualifikation sowie die Play-offs bestehen und durch einen glücklichen Zufall in die gleiche Gruppe gelost werden wie RB Leipzig.