Unangenehme Dinge zu einem späteren Zeitpunkt erledigen ist menschlich. Was Kolumnistin Julia Siebert jedoch bei ihrem Freund Stefan erlebt, erstaunt selbst hartgesottene Aufschieber.

Es mangelt nicht an Anleitungen, wie man das Lernverhalten und die Lerneffekte optimieren kann. Ersteres muss nicht immer zu letzterem führen. Manchmal klappt es sogar besser, wenn man die Anleitungen links liegen lässt, sich stattdessen entspannt und kreativ mit der Situation umgeht. So macht es Stefan.

Stefan ist ein Auf-den-letzten-Drücker-Typ. Und damit meine ich nicht den klassischen Auf-den-letzter-Drücker-Typ, der seine Sachen nicht heut und nicht morgen erledigt, schon gar nicht früh am Tag, dann aber doch übermorgen, ab dem späten Nachmittag, zwar mit Stress aber doch noch mit genug Puffer, um ein Dokument um 23.55 Uhr in den Nachtbriefkasten zu stecken. Meines Erachtens ist diese Form der Aufschieberitis natürlich, menschlich, normal. Wer es gern pathologisieren will, nenne es Prokrastination, und wer dieses Phänomen für ein gutes Honorar behandeln wollte, der würde sich am Härtefall Stefan ganz sicher die Zähne ausbeißen. Denn Stefan treibt die Aufschieberitis nicht nur auf die Spitze, sondern er ist auch noch fröhlich dabei. Wie zuletzt.

Stefan hatte am Folgetag unseres Treffens eine anspruchsvolle Prüfung vor sich, für die ca. 400 Seiten Fachtexte zu lernen waren, von denen er um 16 Uhr noch keine einzige Zeile angeschaut hatte. Dass wir mit seinem Schriftstück, das er den Prüfern noch zuschicken musste, eher fertig waren als geplant, brachte ihm zwei zusätzliche satte Stunden ein – die er allerdings nicht auf seinem Lernzeit- sondern auf seinem Freizeit- und Entspannungskonto verbuchte. Bis 23 Uhr nahm er Anlauf, um dann doch so langsam mal mit dem Lernen anzufangen. Und weil man sich möglichst alles im Leben möglichst angenehm machen sollte, auch das Lernen, ließ er sich ein heißes Schaumbad ein, drehte sich einen großen Joint, drehte Techno-Musik auf, schnappte sich das Buch und blätterte es mit einer Schaumkrone auf dem Kopf flüchtig durch. Dann schlief er gut ein, erschien auf den letzten Drücker zum Prüfungstermin und – bestand! Und zwar mit 1+! Null Fehler. Alles bestens. Nicht zu toppen. Summa cum laude. Dies blieb kein Einzelfall. Gestern haben wir seine Klausur gefeiert, die er zur Überraschung bzw. zum Ärger seiner Kollegen mit einer 2 bestanden hat, nachdem er am Vorabend zunächst die 670 Seiten Lernstoff auf 180 Seiten reduziert hat, weil sich dünnere Stapel leichter durchblättern lassen.

Die Wochen davor hat er von Kambodscha aus seinen Kollegen über Facebook dabei zugeschaut, wie sie sich mit fast nichts anderem mehr beschäftigt, Lerngruppen gebildet, sich selber und gegenseitig verrückt gemacht haben. Wie man das eben normalerweise so macht vor Prüfungen. Das muss nicht sein, wie Stefan zeigt. Jedoch kann man Stefans Strategie nicht als Good Practice empfehlen und einfach so nachahmen. Um damit erfolgreich zu bestehen, muss man eben Stefan sein, und das ist eine exklusive Kombination ungewöhnlicher Eigenschaften. So muss es wohl doch dabei bleiben, dass wir Normalos weiterhin Schokakola, Traubenzucker, Koffein, Aspirin und andere Mut- und Muntermacher in uns hineinstopfen, uns allein daheim oder kollektiv in Lerngruppen den letzten Nerv rauben, um dann entgegen aller negativen Erwartungen natürlich doch zu bestehen und immer wieder aufs Neue im Rückblick einzusehen, dass es auch mit weniger Lernaufwand, Angst und Stress geklappt hätte – während sich Stefan in der Badewanne ein Lied auf die Prüfungsvorbereitung pfeift und fröhlich vor sich hin prokrastiniert. Tja …

Julia Siebert

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