Früher waren manche Sitten rauer als heute. So schnitten germanische Priesterinnen vor wichtigen Schlachten Gefangenen die Kehle durch, um aus dem Blut die Siegeschancen der eigenen Truppen vorherzusagen. Die Methoden, mit denen heute Prognosen erstellt werden, sind aussagekräftiger.

Die Computertechnik macht es möglich, riesige Berge von Informationen in kürzester Zeit zu verarbeiten und alle möglichen Trends und Wechselbeziehungen zu berechnen. Blut braucht keines mehr zu fließen, höchstens Schweiß bei der Interpretation der erhaltenen Aussagen.
Prognosen sind bei Politikern und Managern immer gefragt, im Moment besonders. Jeder möchte wissen, ob die Krise vorbei ist oder ob nicht alles noch schlimmer kommt. Historische Erfahrungen für die Krise nach der Krise gibt es genug. Die große Depression von 1929 bis 1933 ist ein klassisches Beispiel. Im Moment scheint es, dass nach einer mehrere Quartale andauernden Talfahrt der Volkswirtschaften alles besser wird.

Die guten Nachrichten werden häufiger, die Leute optimistischer, z. B. weil der Export wieder anzieht und die Arbeitslosigkeit sinkt. Auch die Inflation befindet sich auf einem sehr niedrigen Niveau, die Kaufkraft der laufenden Einkommen bleibt erhalten. Niedrige Inflation kann man aber auch kritisch bewerten, doch im Moment wird darüber hinweggesehen. Die Politik klopft sich auf die Schulter, schließlich haben historisch einmalige staatliche Konjunktur- und Hilfsprogramme weit Schlimmeres als den Einbruch der letzten beiden Jahre verhindert.

Doch sind mit den gewaltigen staatlichen Verschuldungsprogrammen auch grundsätzliche Fragen der Zukunft gelöst oder ist ihre Lösung zumindest angeschoben worden? Die modernen Priesterinnen, sprich Prognostiker, sind sich nicht einig. Eine Gruppe von ihnen betreibt auftragsgemäß Augenwischerei und redet die Situation schöner als sie ist, die anderen sehen nur die nach wie vor vorhandenen Gefahren und ignorieren die Fakten einer zarten Verbesserung der Situation.
Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie sich zu stark auf die kurz- und mittelfristigen Konjunkturprozesse konzentrieren und die vielfältigen strategischen Probleme nur am Rande betrachten. Von letzteren gibt es mehr als genug, und auch nach Erreichen eines stabilen konjunkturellen Aufschwungs werden die strukturellen Zukunftsfragen nicht verschwunden sein.
Zu den wichtigsten gehören die rasante Entwicklung der Weltbevölkerung, die viele Fortschritte im Bereich der Armutsbekämpfung und Unterentwicklung zunichte macht, die tendenzielle Verknappung der Rohstoffressourcen und deren nachhaltige Verteuerung, die schneller als vorhergesagt sich vollziehende Erderwärmung, das Auslaufen einer Reihe langfristiger Innovationswellen, z. B. im Bereich des Internets und der Telekommunikation, des Automobil- und Maschinenbaus.

Diese Prozesse werden unsere Zukunft stärker prägen als Erfolg oder Nichterfolg von staatlichen Konjunkturprogrammen. Es gibt eine Reihe neuer langer Innovationswellen, z. B. der schrittweise Übergang zur Nutzung erneuerbarer Energieträger, doch im Weltmaßstab ist dieser Trend noch relativ schwach, und die dahinter stehenden Kräfte werden so schnell nicht das Auslaufen der bisherigen Innovationsfelder ausgleichen können. Obwohl: wer weiß da schon? Sehr oft haben sich auch fundamentiert erscheinende Prognosen als falsch erwiesen, und zwar in beiden Richtungen. Bleibt also nur die Aussage gesichert: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“

Lassen wir uns ganz einfach überraschen und machen aktiv mit bei der Vorhersage unserer Zukunft.

Bodo Lochmann

12/02/10

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