Murat Äuesow, geehrter Arbeiter Kasachstans, Kulturwissenschaftler, Mukhtar Äuesows Sohn sowie Weiterführer von dessen Werk, erzählt im Interview mit der DAZ, wie wertvoll für ihn die nationale Wiederbelebung ist. Außerdem geht es um die Rolle Herold Belgers bei der transformativen Mission auf dem Weg der Traditionswahrung und Identität des kasachischen Volkes.
Herr Äuesow, was ist Ihnen von der ersten Begegnung mit Herold Belger in Erinnerung geblieben?
Mit 17 Jahren zog ich für das Studium nach Moskau. Zehn Jahre später kehrte ich zurück, nach der Universität und einem Postgraduiertenstudium. Es sei angemerkt, dass ich mich sehr früh auf meine humanitären Vorlieben festgelegt habe. In Alma-Ata lebten Menschen, die ich sehr respektierte und liebte. Sie waren begabte Schriftsteller und Denker, die eine beeindruckende transformative Mission hatten.
Das Erscheinen dieser Art von Menschen war für die kasachische Literatur in den 1960er Jahren äußerst wichtig. Beispielsweise Askar Suleimenow, Abisch Kekilbajew… Während ich in Moskau die chinesische Sprache lernte, geschah hier etwas Neues: In Korrespondenz und Gesprächen mit den Schriftstellern spürte ich in ihren Reihen die Anwesenheit einer erstaunlichen, starken Persönlichkeit, die mit ihnen solidarisch war – und sie jubelten.
Unsere Sechziger brachten die Zeit des Chruschtschowschen Tauwetters mit – die Werke waren von unglaublich hoher Spiritualität. Nach dem totalitären Regime und der Erstickung des Bewusstseins kreativer Persönlichkeiten war für die Gesellschaft ein wiederbelebendes Erwachen unumgänglich. Und so tauchte zwischen den Meistern Almatys ein sehr kluger und vielgefragter Mensch jener Zeit auf – Herold Belger. Mit all meinem jugendlichen Maximalismus empfing ich ihn mit Freude. Ich hatte Glück: Mehr als ein halbes Jahrhundert meines Lebens verstrich unter Herold Karlowitschs warmem, sehr wohlwollendem Auge und erzieherischem Einfluss.
Worin bestand Ihrer Meinung nach das Genie von Belger?
Es gibt da eine Bibel-Phrase: „Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ Ich spürte in Herold Karlowitsch einen Menschen, der zu Mitgefühl und Verständnis fähig war. Er konnte Menschen dabei helfen, die Notlage ihrer Seelen und ihres Geistes zu bewältigen. Herold Karlowitsch stammte aus einer wolgadeutschen Familie, die nach Kasachstan deportiert wurde. Mit Ungerechtigkeiten war er seit seiner Kindheit konfrontiert, dennoch war er nicht ein sozusagen zerzaustes Opfer dieser Umstände.
Mit seinen sanften Gesichtszügen, seinen rücksichtsvollen, intelligenten Unterhaltungen und seiner Herzlichkeit gab es ein starkes Heldentum in seinem Charakter. Humanismus und wahrhaftiges Mitgefühl waren meiner Meinung nach grundlegende Eigenschaften Belgers. Er war Romanschreiber, Publizist, Theoretiker und Übersetzer, eine öffentliche Person von erstaunlicher Seelenoffenheit. In ihm war das höchste Maß des intellektuellen Gens zu erkennen. Alles, war er vollbrachte, tat er mit einem Lächeln, mit welchem er seine Taten vergrößerte. Belger gab den Menschen ihre Menschlichkeit zurück.
Als Enzyklopädist vieler Traditionen und Kulturen beherrschte Herold Karlowitsch die kasachische Sprache unglaublich gut. Er hatte ein wunderbares Gespür für Feinheiten und Details, er wusste die ethnografische Vielfalt zu bedenken. Es war phänomenal. Wie akkurat und delikat, mit großartigem Wissen er Autoren kasachischer Wörterbücher half und sie sogar anleitete! Ich kannte diese Leute persönlich, die das außergewöhnliche Wissen bewunderten, über das Belger verfügte. Mir scheint, das Schicksal bestimmte ihn von vornherein dazu, der Wiederhersteller des Zerstörten zu werden: die lebensschaffende Integrität zu harmonisieren und wiederherzustellen – einschließlich der kasachischen Sprache.
Die Kasachinnen und Kasachen verliehen ihm den hohen Titel „Bilgir“ („der Wissende“), und sagten auch, „ein wahrer Kasache ist kein Kasache, ein wahrer Kasache – das ist Belger“. In seinen Werken zeigte Herold Karlowitsch, welche Übersetzungen kasachischer Wörter geeignet oder ungeeignet sind. Er belebte die Sprache wieder, trieb ihre Entwicklung an. Diese Zeit wurde zur Blütezeit der kasachischen Sprache und kasachischen Prosa, die Herold Karlowitsch ausgezeichnet übersetzte.
Deutsche Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit machten sich auch in seinen Publikationen geltend. Beispielsweise führte Herold Karlowitsch bei der Analyse der russischsprachigen Übersetzung von Mukhtar Äuesows Roman-Epos „Weg des Abai“ im Vergleich zum Originaltext eine filigrane Arbeit von titanischer Dimension durch.
Herold-Aǵa [kasachisch für großer Bruder] hat Sie sowohl mit Sokrates als auch mit dem Protagonisten des Romans „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse verglichen. Mit wem würden Sie umgekehrt Belger vergleichen?
Ich würde es mir erlauben, ihn mit Abai zu vergleichen. Belger war genauso ehrlich und gerecht – er hatte keine Angst zu ermahnen, den Menschen die Wahrheit, die Geheimnisse des Lebens und der Seele zu offenbaren. Herold Karlowitsch wurde durch Schicksal zur Erlösung von allem Leid und allen Nöten zu uns gesandt. Dieser Mensch war bereit zur Erfüllung der höchsten Mission sowie der persönlichen kreativen Leistung.
Und es gelang ihm – hier gibt es keine Übertreibung. Er war ein bemerkenswerter Moralpädagoge! Belger brachte Ost und West zusammen, vermenschlichte die Geschichte und belebte die alte Einheit der Kunst wieder. Er ist eine Persönlichkeit von gesamtgeschichtlichem Ausmaß! Herold Karlowitsch wusste zu argumentieren – mit all seiner Ehrlichkeit, Tiefe und Helligkeit – seine Worte ließen buchstäblich aufrütteln, erwachen und zu Bewusstsein kommen.
Seinem Testament zufolge wurde Herold Karlowitsch auf dem Kensai-Friedhof in Almaty beerdigt, wo sich auch die Gräber seiner kasachischen Freunde befinden. Belger wollte neben seinem Kameraden Askar Suleimenow beerdigt werden. In den 60er Jahren fanden sie sich, entwickelten die höchsten Ideale der Harmonie sowie des menschlichen Wohlstands und stärkten ihren Geist. Die kasachische Erde wird ihm auf ewig dankbar sein – mit den Jahren verstehen wir immer mehr die Bedeutung seiner Taten.
Handelt das Buch „Tamyr Tamyrow“ von der starken Verbindung von Seelenverwandten? Könnte man Sie und Herold Karlowitsch so bezeichnen?
Absolut. Aber hier muss man klar die Unterordnung benennen. Mein Vater ist ein großartiger Mensch. Sein Platz in der künstlerischen Literatur ist hoch, meiner ist viel bescheidener. Ja, ich bin auch in dieser Welt, aber die Gewichtsklassen sind unterschiedliche. So ist es auch mit Belger: Er ist ein Meister der Spiritualität. Er ist der Auserwählte und ich bin einer der Berufenen. Ich erinnere mich daran, dass ich viel an mir gearbeitet habe, als ich aus China zurückgekehrt bin. Für mich war die nationale Wiederbelebung sehr wertvoll.
Und als ich im Verlaufe eines Gesprächs mit Herold Karlowitsch ins Kasachische wechselte, staunte Belger! Er merkte erfreut an, und das geschah öffentlich vor anderen Schriftstellern: Seht her, wie erfolgreich Murat in der kasachischen Sprache floriert! Das war für mich so ein hohes Lob und eine hohe Anerkennung. Von Herold Karlowitsch ging so ein Wohlwollen mit erhöhter Komplementarität aus, indem er denjenigen stärkte, der auf dem richtigen Weg war und nach höchsten Ergebnissen strebte.
Vielen Dank für das interessante Gespräch!
Interview: Marina Angaldt. Übersetzung: Sasha Borgardt.