Ganz im Osten der EU lebt ein Teil der russischen Minderheit ohne Staatsbürgerschaft. Rigide Regelungen der lettischen Regierung verhindern die Einbürgerung. Ein reichliches Jahr nach der EU-Osterweiterung bedeutet das immer noch auch für einige der 80 Prozent russischstämmigen Letten in Daugavpils, ohne Wahlrecht in ihrer Heimat zu wohnen. Auch die vor Jahren aus der damaligen Sowjetunion zugezogenen Deutschstämmigen fühlen sich diskriminiert.
Daugavpils ist einer der östlichen Außenposten der EU. Hier, 20 km von der weißrussischen Grenze entfernt, braucht man oft kein Lettisch und auch kein Englisch – Russisch ist meistgesprochene Sprache. Von Riga, der lettischen Hauptstadt, fährt der Bus vier Stunden durch anmutige Heidelandschaft, hier und da entlang des Flusses Daugava. Irgendwann hört man auf, die Störche zu zählen. Am oft menschenleeren, frischgepflasterten zentralen Platz der Stadt stehen ein neues Luxushotel und ein schicker Großmarkt. Die Händler des früheren russischen Basars sind in einen neumodischen Shoppingkomplex eingezogen. Das gerade eröffnete Kebab-Restaurant der Stadt gehört einem in Deutschland aufgewachsenen Türken. Es gibt einen neuerbauten Busbahnhof, ein Eisstadion und ein Multiplex-Kino. Nur in der Fußgängerzone muss man hier und da über defekte Fußwegplatten balancieren. Zwei, drei nette Cafés haben in den letzten Monaten aufgemacht. Ab zehn Uhr abends gibt es keinen Alkohol mehr in lettischen Geschäften. Die „Totschki”, illegale Kioske, an denen man auch nach der Sperrstunde noch Hochprozentiges bekommt, boomen.
„Ein bisschen wie Russland mit dem Weichzeichner, freundlichere Leute, mehr Ordnung”, sagen die aus dem Osten Zugezogenen über ihr Daugavpils. „Die depressive Stadt” nennen jedoch die Rigaer den Ort. Das beschauliche neu-EU-Städtchen mit den imposanten Neubauten gehört zu den Regionen mit dem niedrigsten Bruttoinlandsprodukt in der EU und hat ein Minderheitenproblem.
Russische Enklave
100.000 Menschen leben in Daugavpils. Hier, im äußersten südöstlichen Zipfel der EU, sprechen die meisten, 80 Prozent der Einwohner, muttersprachlich Russisch und nur ein bisschen Lettisch. 30 Prozent von ihnen leben mitten in der EU als Staatenlose. Die russische Minderheit in Lettland – die Mehrheit in Daugavpils – hat teilweise keinen lettischen Pass und damit auch kein Wahlrecht. Viele von ihnen sind zu Sowjetzeiten aus dem Osten ins Baltikum gezogen. Unter ihnen sind auch Deutschstämmige wie Georgi Lemonow. Der 43jährige lebt seit 15 Jahren nahe Daugavpils. Als Sohn einer Wolgadeutschen ist er in Kasachstan aufgewachsen. Die Ausreise nach Deutschland blieb ihm verwehrt. Einen lettischen Pass hat er nicht. „Ich bin hier ein Niemand, obwohl ich arbeite und Steuern zahle“, sagt er. Denn nur die Russen, die schon vor 1940 in Lettland gelebt haben oder nach 1990 in der Ex-Sowjetrepublik geboren sind, bekommen die Staatsbürgerschaft. Alle anderen müssen einen Sprach- und Landeskundetest bestehen, um nicht mehr Letten zweiter Klasse zu sein. „Negr” sagen die pass- und staatsbürgerschaftslosen Russen und Deutschstämmigen hier spöttisch über sich selbst – die Abkürzung des russischen Wortes für „Negraschdanin” – „Staatenloser”. Nur für einige der jungen Russen hatte das Vorteile – der Wehrdienst blieb ihnen erspart. Jetzt gibt es eine Berufsarmee.
Deutschstämmige auch als Staatenlose in Lettland
Lemonow ist Vorsitzender einer der fünf deutschen lutherischen Gemeinden Lettlands. „Wir sind gerade noch 27 Leute hier, erst im letzten Jahr sind zwölf nach Deutschland gegangen”, erzählt er.
Vom neuasphaltierten zentralen Platz geht es zehn Minuten mit der Straßenbahn auf den Daugavpilser Kirchenberg. Dort stehen eine russisch-orthodoxe Kirche, eine katholische und eine protestantische einträchtig beieinander, das Vereinshaus der Deutschstämmigen ist nur wenige Schritte entfernt. Ein deutscher Pastor kommt einmal pro Monat aus Riga für die Messe – doch die wird statt im Gotteshaus im Haus der Deutschen abgehalten. Alexej, ein zugezogener Russe, übersetzt dann für die Deutschstämmigen ins Russische, denn viele verstehen die Sprache ihrer Vorfahren nicht gut genug. Die protestantischen Letten bleiben in der Kirche lieber unter sich. „Was uns hier in der Gemeinde verbindet, sind eigentlich vor allem die deutschen Wurzeln”, erzählt Lemonow. Inzwischen gäben sogar viele ihre Kinder als Letten aus, um es leichter zu haben. Georgi arbeitet als Fahrer.
Einer der Hauptarbeitgeber im Ort ist die deutsche Firma Ziegler. Ihre 500 meist russischstämmigen Mitarbeiter arbeiten für ungefähr 200 Euro im Monat, ein halbes Dutzend deutsche Chefs ist auch da.
Wer von den Jungen keinen Job in Daugavpils oder in einer der wenigen übriggebliebenen Fabriken bekommen hat, der setzt sich in einen Flieger nach Irland oder Großbritannien, um zu arbeiten. „Wenn sie den ersten Sommer heimkommen, kaufen sie sich einen Jeep und nach dem zweiten Sommer eine Wohnung”, erzählen die Leute auf der Straße über die gut verdienenden EU-Pendler. Zehn Prozent Arbeitslose gibt es in Daugavpils, sagen offizielle Statistiken, 30 Prozent sind im Umland ohne Job. Das Gebiet Daugavpils ist auch eines der ärmsten in Lettland.
Vor dem Hauptgebäude der Universität steht eine Statue des lettischen Nationaldichters Janis Rainis. Wer hier studiert, spricht meist Lettisch und Russisch, auch Englisch und vielleicht Deutsch noch dazu. Die meisten Studierenden sind Frauen. Die Suche nach dem britischen oder amerikanischen Ehemann im Internet ist keine Seltenheit. „Doch Abiturienten aus Daugavpils bleiben oft hier, um zu studieren”, erzählt Inga Milewitsch, die Russischlehrerin mit lettischem Vater und russischer Mutter.Viele russischstämmige Schulabgänger würden sich wegen der Sprache scheuen, die Region zu verlassen. „In Riga muss man gut Lettisch sprechen, um zurechtzukommen.” sagt sie. Auch ihre Mutter lebt ohne Pass – doch das mache es ihr leichter, ein russisches Visum zu bekommen: „Als Staatenlose ist es einfacher, ihre Verwandten in Russland zu besuchen. Doch im Alter noch lettisch zu lernen, ist einfach unzumutbar“, sagt Inga Milewitsch.
Wie lange die russischstämmigen Letten im Baltikum noch einen Test absolvieren müssen, um die Staatsbürgerschaft ihres Landes zu bekommen, ist fraglich. Die in Kanada aufgewachsene lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga jedenfalls hat unterdessen medienwirksam angefangen, Russisch zu lernen.
11/11/05