Zehn Jahre danach – welche Veränderungen hat es seit den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in den internationalen Beziehungen und der Sicherheitspolitik gegeben? Anlass genug, für die Friedrich-Ebert-Stiftung Almaty auf der Regionalkonferenz am 16. November 2011 Bilanz zu ziehen: Experten aus Ost und West diskutierten die Auswirkungen des 9/11 auf die internationale Sicherheitspolitik sowie die Rückwirkung auf Zentralasien.
/Bild: DAZ. ‚Prof. Dr. Wulf Lapins, Prof. Dr. Wilfried Schreiber (re.)’/
„Es gibt keine historische Stunde Null“, erklärt Prof. Wulf Lapins. Der Koordinator der Friedrich-Ebert-Stiftung in Zentralasien stellt gleich zu Anfang der Regionalkonferenz fest, dass die Terroranschläge des 9/11 nicht losgelöst vom historischen Kontext betrachtet werden dürfen. Es steht jedoch fest, dass sie einen signifikanten und nachhaltigen Einfluss auf die internationale Sicherheitspolitik ausgeübt haben. Die Angriffe führten aber nicht zu einer ‚kopernikanischen Wende‘ in der internationalen Sicherheitspolitik und auch zu keiner neuen Zeitenwende seit 2001. Bereits die neue NATO-Strategie von 1991 führte nach dem bereits faktischen Zusammenbruch der Sowjetunion als Hauptbedrohung nunmehr das potenzielle Aufkommen von Terror- und Sabotageakten als „bleibende Sicherheitsrisiken der Allianz“ auf, erinnert Lapins. Die unmittelbaren Auswirkungen der Ereignisse des 11. September waren enorm: Der NATO-Bündnisfall nach Artikel 5 wurde konstatiert, und US-Präsident George W. Bush rief den „Krieg gegen den Terrorismus“ aus. Die Terrorismusbekämpfung war jedoch bereits unter Präsident Reagan eine außenpolitische Hauptaufgabe der USA – allerdings fokussiert auf den Mittleren Osten. Der bereits damalige politisch-extremistische Islam wurde aber nicht als Sicherheitsbedrohung erkannt. Der Bombenanschlag auf das World Trade Center 1993 war die erste islamistisch motivierte Terroraktion von Al Qaida in den USA.
Russlands Präsident Wladimir Putin erkannte die psychologische, traumatische Bedeutung des 9/11 für die USA und ergriff die Chance, durch Zusammenarbeit in der Terrorbekämpfung die ersehnte Anerkennung von politischer Augenhöhe zu erhalten.
Zehn Jahre nach dem 9/11, so die Beurteilung von Lapins, sei der damalige kurze sicherheitspolitische „Blütentraum“ vorbei. Die nüchterne sicherheitspolitische Realität, gespeist aus unterschiedlichen Perzeptionen und unvereinbaren Präferenzen von USA und Russland, sei längst wieder in die Amtsstuben in Washington und Moskau eingekehrt.
Der US-geführte „Krieg gegen den Terror“ habe die Welt aber nicht besser und auch nicht sicherer gemacht. Zu dieser Bewertung kommt Prof. Dr. Wilfried Schreiber von der Dresdner Studiengemeinschaft für Sicherheitspolitik in Berlin. Bekämpft werden nur die Erscheinungsformen und nicht die Wurzeln des Terrorismus, was die terroristische Gefahr für die USA und Europa zehn Jahre nach 9/11 sogar noch vergrößert habe.
Erstmals nach dem Ende des Kalten Krieges hätten die USA mit dem 11. September eine Art „Sputnikschock“ erlebt und erkennen müssen, dass sie nach wie vor angreifbar und verletzbar sind. Insbesondere in den USA dominiere laut Wilfried Schreiber angesichts der komplexen Veränderungen in der Welt und der zahlreichen neuen Sicherheitsrisiken eine sehr einseitige Sicht auf das Problem des Terrorismus.
Viel wichtiger sei es, so Schreiber, den 11. September und den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ in einen welthistorischen Rahmen seit dem Ende der Blockkonfrontation einzuordnen. Zwanzig Jahre, in denen sich die Welt gravierend verändert hat: Die USA hat ihre alleinige Vorherrschaft verloren, und die BRIC-Staaten haben als neue globale Akteure einen wachsenden Einfluss auf die Weltpolitik und Weltwirtschaft gewonnen.
Der Westen sei durch den Krieg gegen den Terror nach Einschätzung Schreibers weltweit in eine defensive Rolle geraten, aus der er sich befreien möchte. Die Absicht der westlichen Industrieländer, die demokratische Entwicklung in der Welt zu fördern, werde durch die Androhung und Anwendung militärischer Gewalt diskreditiert. Die Kriege seit den 90er Jahren auf dem Balkan, im Irak, in Afghanistan und in Libyen seien dafür Zeugnis genug.
Welche Rolle spielt nun der 11. September in diesen Entwicklungen?
Wilfried Schreiber sieht in den islamistisch motivierten Terroranschlägen auf das World Trade Center weder die Ursache noch den Auslöser dieser Entwicklung. Am ehesten habe 9/11 die Funktion eines Katalysators gehabt.
Der Politikwissenschaftler Jörg Nackmayr aus Berlin kann dies nur bestätigen: Der von Al-Qaida gesteuerte islamistische Terror sei schon vor den Anschlägen 2001 eine Gefährdung für die Sicherheit gewesen und zu einem Phänomen geworden. Der 11. September habe dabei lediglich eine Verstärkerfunktion gehabt.
Die heutige internationale Sicherheitspolitik erfordere nach Auffassung Wilfried Schreibers dringend ein neues Denken und Handeln. Nicht nur das globalstrategische Kräfteverhältnis habe sich grundlegend verschoben, sondern neue globale Sicherheitsrisiken seien entstanden. Staatenzerfall, Proliferation von Massenvernichtungswaffen, religiöser Extremismus oder Migrationsströme seien globale Risiken, denen die internationale Staatengemeinschaft nur gemeinsam entgegentreten kann: und zwar mit einer neuen präventiven Sicherheitsvorsorge.
Mit Entstehen der neuen Sicherheitsrisiken und der Herausbildung des neuen globalen Mächteverhältnisses habe sich der Schwerpunkt der internationalen Konflikte von Europa nach Asien verlagert, führt Wilfried Schreiber aus. Der zentralasiatische Raum und insbesondere Afghanistan nehmen nunmehr eine Schlüsselrolle ein.
Im Fadenkreuz der Großmächte
Schon im 19. Jahrhundert geriet Afghanistan während der ersten beiden anglo-afghanischen Kriege ins Fadenkreuz der Großmächte, als das sog. „Great Game“ – der historische Konflikt zwischen Russland und Britisch Indien – um die Vorherrschaft in Zentralasien ausgetragen wurde. Erst mit dem Sowjetisch-Afghanischen Krieg 1979 kehrte der Konflikt des „Great Game“ wieder in das Land am Hindukusch zurück.
Die neue Rivalität von Russland, den USA, China und auch Europa am Kreuzungspunkt der Machtinteressen ist laut Schreiber offensichtlich, so dass viele mittlerweile vom „New Great Game“ sprechen. Jedoch zeugen der immer noch anhaltende Afghanistankrieg, dass militärische Gewaltpolitik keine Lösung des Konflikts sei. Eine Neuauflage des „Großen Spiels am Hindukusch“ zeige nur ein veraltetes Denkmuster aus der Zeit des Kalten Krieges an.
Das „Asiatische“ Jahrhundert
Jörg Nackmayr erkennt ebenfalls eine Schwerpunktverlagerung der Machtinteressen nach Zentralasien. War das historische „Great Game“ europazentriert, spielt Europa nach Nackmayrs Auffassung heute keine entscheidende Rolle mehr in Zentralasien. Die Konfliktzonen verlagern sich heute nach Eurasien – und darin stimmt er mit Wilfried Schreiber überein: Afghanistan spielt in diesem Konflikt und dem seit 2001 andauernden „Krieg gegen den Terror“ eine Schlüsselrolle.
Jörg Nackmayr zufolge ist diese Verlagerung der Konfliktzonen nach Asien auch mit einem zunehmenden Bedeutungsverlust Europas verbunden: Die zentralasiatischen Länder sowie China und Indien lassen Europa in diesem Szenario wirtschaftlich und politisch weit zurück. Der asiatische Raum hat durch seine immense wirtschaftliche Dynamik, seine reichen Rohstoffvorkommen und unternehmerischen Höchstleistungen ein ungeahntes Potenzial aufzubieten.
Schon sprechen Experten vom Beginn des „Asiatischen Jahrhunderts“ und einer neuen Bedeutung Asiens, welche es zuletzt in der Altertum innehatte.
Wilfried Schreiber bewertet die derzeitige Situation in den zentralasiatischen Ländern so, dass die wirtschaftliche und politische Kooperation in diesen Staaten gestört sei. Organisationen, wie die NATO und die OSZE, seien aktuell geschwächt und weitgehend handlungsunfähig.
Die entscheidende Alternative für ein gefährliches Aufleben des „Great Game“ in Zentralasien sind für Wilfried Schreiber ein „effizienter Multilateralismus“ und eine „kooperative Multipolarität“ in der internationalen Sicherheitspolitik. Als wichtigstes Merkmal des effizienten Multilateralismus nennt Schreiber die Stärkung der internationalen Institutionen und deren Handlungsfähigkeit, insbesondere im Hinblick auf die Reform der Vereinten Nationen.
Die Streitkräfte können in dieser Entwicklung lediglich die Rolle des letzten Mittels der Sicherheitsvorsorge übernehmen. Schreiber streitet jedoch nicht ab, dass es zu weiteren Militäreinsätzen und Konfrontationen in der globalisierten Welt kommen wird. Jedoch bezweifelt er, dass dieser Weg der richtige ist. Entscheidend sei, ob die Hauptakteure weiterhin auf Konfrontation setzen oder den gemeinsamen Dialog suchen?
Daher sei die Stärkung der kooperativen Multipolarität zwischen mehreren globalen und regionalen Akteuren wie den USA, Europa, Russland, Indien, Japan und China unabdingbar.
Insbesondere sollten hierbei die zentralasiatischen Republiken enger miteinander zusammenarbeiten.
Mehr noch: Angesichts der globalen Sicherheitsrisiken und der drohenden Neuauflage des „Great Game“ müsse, so Wilfried Schreiber, ein neuer Typus der Sicherheitsvorsorge angestrebt werden. Neue Formen zwischenstaatlicher und multilateraler Zusammenarbeit müssen gebildet werden.
Institutionen, wie die Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SOC), die OSZE, die Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA) oder die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) werden den Konflikt in Zentralasien zwar nicht lösen. Sie können aber Schreibers Auffassung nach allemal ein Forum für den Dialog bilden und die schrittweise Bildung von Vertrauen fördern.
Die derzeitige internationale Sicherheitspolitik verlange nach Wilfried Schreibers Einschätzung multinationale und globale Antworten: „Heute geht es um Partnerschaft statt Vorherrschaft, um Kooperation statt Konfrontation, um Ausgleich von Interessen statt um ihre gewaltsame Durchsetzung!“