Letzte Woche fand in Almaty die Premiere der ersten kasachischen Inszenierung Heiner Müllers „MEDEAMATERIAL“ in einer sehr interdisziplinären Inszenierung statt. Im Kontext der jüngsten Geschichte Kasachstans bietet der Mythos der Medea, als einer Migrantin, Zauberin und Barbarin, die sich in der neuen Heimat trotz der Absage an ihre alte Heimat nie angekommen fühlt und zwischen zwei Ufern wähnt, höchst spannende kulturhistorische Betrachtungsweisen. In den folgenden Beitrag fließt auch ein Gespräch ein, das mit dem Regisseur bereits einige Tage vor der Premiere geführt wurde.

Es ist das stadtbekannte Einkaufszentrum Megapark durch das man schreiten muss, um durch Dienstgänge in eine enorm große leerstehende Ladenhalle zu gelangen, in der vor allem rohe und hohe Decken und Wände, eine luftige Bühnenkonstruktion und industrielle Atmosphäre auf den Besucher warten. Alle Zeichen stehen auf zeitgenössisch.
Der junge Regisseur und Producer Rustem Begenow begrüßt und rät richtungsweisend dem Publikum dazu, sich einfach nur der sinnlichen Wahrnehmung hinzugeben und sich auf Musikalität einzulassen. Er hat seine Ausbildung vor allem dem experimentellen Moskauer Stanislawski-Elektrotheater unter der Leitung Boris Juchananows zu verdanken und arbeitete mit namhaften Theaterschaffenden wie Théodore Tersopulos, Romeo Castellucci und Heiner Goebbels. Hier standen prozessuale Entwicklungsprozesse von Inszenierungen auf dem Programm. Ebendiese Prozessorientiertheit brachte er nach Almaty, um mit bekannten hiesigen Kulturschaffenden (alle sind Theaterlaien) ein eigensinniges Inszenierungsprojekt zu entwickeln: „Diese Inszenierung wurde nicht durch irgendeine Vision von mir erschaffen, die ich den anderen Projektpartnern transliteriert habe. Jeder Beteiligte las das Stück Müllers, und jeder steuerte seine Assoziationen dazu bei, wie unterschiedlich diese auch waren. Irgendwann wurde klar, dass aus der Berücksichtigung und Vereinigung eben dieser unterschiedlicher Assoziationen sich eine gemeinsame Idee, ein Bild der Inszenierung kristallisieren kann“. Im Endeffekt scheinen nahezu alle Beteiligten hier auf die eine oder andere Weise als Regisseure zu fungieren. Ein demnach innovatives und intuitives Theater, was seine eigenen Begriffe im Dauerzustand auszuloten sucht. Es nennt sich letztlich auch nicht mehr Theater, im Rahmen dieses Projekts entschied man sich für den Terminus „pop-mechanisches Schauspiel“, um alle Eventualitäten abzudecken.

Als Avantgarde fühlt sich Begenow dennoch nicht, er gesteht der Aufführung höchstens das Label „ein wenig ungewohnt für Almaty“ ein, denn es sei nichts Neues erfunden. „Alles deutet darauf hin, dass solche Projekte in Zukunft gängig sein werden, ob wir die Pioniere sind oder andere ist dann nicht mehr wichtig.“

Ästhetik im Dauerwerbeformat

Hauptunterstützer waren das Goethe-Institut, das dramaturgisch beiseite stand und sich um die kasachische Übersetzung und die Rechte des Stoffes von Heiner Müller kümmerte wie auch finanziell unterstütze, und der Soros Fund, der sich ebenso finanziell beteiligte. Abgesehen von den bekannten Kulturakteuren, bot auch ein interessanter kommerzieller Akteur seine Hilfe, das Shoppingcenter Mega Park, das die Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. Des Weiteren beteiligten einige andere Unterstützer.

Der zeitgenössische kulturelle Kontext ist besonders ausschlaggebend für Begenow. Auch kollektive Erinnerung und Aufarbeitung von Vergangenheit. Neben den Inhaltlichen Motiven ist, wie so oft für zeitgenössische Projekte, der Kontext der örtlichen und räumlichen Umgebung mindestens genauso wichtig, jedes Detail, Ding und jede Form kann Bedeutung in sich tragen, ob Geschehen auf der Bühne, die Bühne selbst oder die Umgebung. Neue Theaterformen nennen sich auch schon einmal „Kunstterror“, möchten sich nur ungern in vorgefertigte Interpretationsraster pressen lassen und proklamieren die Gesamtheit aller Facetten als frei interpretierbar. Der Ausbruch aus der Institution des Theaters liefert non-stop-Ästhetik im Dauerwerbeformat, von dem Augenblick an, an dem man sich von seiner Haustür in Richtung Schauspiel begibt.

Begenow hat den Stoff Müllers auf Kasachstan gemünzt, die für Müller so charakteristischen harten Worte und Phrasen hat er größtenteils geopfert, auch um Skandale zu vermeiden, aber vor allem der kalssischen Ästhetik willen. Der dritte Textteil Müllers zu den Argonauten fehlt offenbar ganz. Und er ist soweit gegangen, Medea als physische Figur vollkommen auszulassen und sich lediglich ihrer Offstimme zu bedienen. „Das kasachische Land hat auch einst seine „Heimat“ verlassen müssen, in einem zeitlichen Kontinuum betrachtet. Das waren Nomaden mit ihren Steppen und Oasen. Warum und wann es irgendwo hingesteuert ist, steht nicht zur Frage. Wo es sich befindet, ist immer noch unverständlich. Das Land ist am Ufer, wie Medea“, so Begenow. Medea ist aber seiner Meinung nach auch die russische Kultur in Kasachstan, die ebenso wie eine fremde Reisende hängen geblieben ist, und ihre Position mittlerweile nicht einzuordnen versteht. Diese beiden unentschlossenen Kulturen stecken, so der Regisseur, in Form von Medea bis dato in einer Transitzone, im Niemandsland, am Ufer.
Begenow wandte sich der jungen, schönen Königstochter Glauke in Medeas reicher neuer Heimat Korinth zu, deren Naivität er am ehesten im unbedarften Laienspiel junger Mannequins repräsentiert sieht. Man darf sie wohl als die neue Generation der naiven und unbehelligten Geschichtslosen verstehen, die in Kasachstan herangewachsen zu sein scheint.
Producer und Regisseur des Stückes Begenow nimmt sich das Mantra Heiner Goebbels zu Herzen und ist bestrebt das Stück nach der „Ästhetik des Fehlenden“ aufzustellen. Er will nicht das Buchstäbliche, nicht das Offensichtliche, doch schafft es die Inszenierung?

Es galt Linearität und Erwartbares zu vermeiden: „Alles was am Ende unverändert so stand wie ganz zu Beginn angedacht, sind die schwächsten Glieder der Aufführung und alles, was unerwartet im Schaffungsprozess entstanden ist, sind die stärksten Momente des Schauspiels.“

Der Voyeurismus-Spiegel

Es ist zwar keine Peepshow, wie Müller das einst in seinen Regieanweisungen für den ersten Teil des Stückes vorschlug, nichtsdestotrotz kommen Momente von gefühltem Voyeurismus seitens des Zuschauers vor. Der Anblick der 16 jungen Mädchen, die sich auf der Bühne puppenhaft und teils verlegen zu einer Choreographie bewegen, die man sonst von professionellen Darstellern erwartet, und dabei aus verschiedenen Blickwinkeln von Kameras gefilmt werden, erzeugt manch eigentümliche Impression. Die Intimität des von Offstimmen vorgetragenen Textes wird darüber hinaus davon gemehrt, dass die Kamerasignale zeitgleich auf Bildschirme übertragen werden. Dazu kommt, dass die „Bühne“ transparent ist, es gibt keinen Auf– oder Abgang – alles ist einsehbar, alles ein Gerüst, ein Konstrukt, was mit gewohnten Darstellungs– und Sehgewohnheiten brechen will.

Die Übertragungsbildschirme dem Publikum gegenüber wirken wiederum wie Spiegel, doch der Einbezug passiert maximal auf einer Metaebene – der Betrachter bleibt ein passiver Voyeur. Falls dieses Gefühl vermittelt werden sollte, gelingt es ausgesprochen gut, da man als Zuschauer aus der Erwartungshaltung kaum herauszukommen scheint. Der Blick wandert von den Mannequins, zu den Kameras, Bildschirmen, Kostümen, Dekoration und zum Ende hin auch zu dem sichtbarer und hörbarer werdenden Musikensemble. Ästhetik führt einige Sinne von einem Reiz zum anderen.

Weniger abstrakt als erwartet

Anscheinend in einem Logarithmus bewegen sich die Mannequins nach einem Zahlencode, der ihnen an der Wand hinter dem Publikum rot aufleuchtet. All dies scheint einer Art relativ präzisen Mathematik zu unterliegen: Raum, Bewegungen, Audiotext, Musik, Kostüme, Dekoration. Doch es entsteht der Eindruck, dass es mehrere Formeln gibt, die nebenher laufen und zu etlichen parallelen Wiederholungen führen. Man hört Medeas Rache als Text, man sieht sie in der Bühnenbewegung und den Requisiten repräsentiert, zugleich wird sie auch in der Musik wahrnehmbar. Das Gefühl einer seichten Überladung mit Didaktik schleicht sich ein.

Doch hoffentlich sollte genau das ein Schachzug der Regie sein – das Erwecken des Gefühls einer Sattheit, eher Übersättigung, einer überlegenen Rolle. Die voyeuristische, gesättigte Gesellschaft, die sich durchaus einmal selbst anschauen und sich zutrauen kann/sollte außerhalb ihres Komforts zu denken, Reflexionen anzustellen und sich zu bemühen, etwas zu verbessern, ja zu verändern, anstatt auf eine präsentierte allgemeine Auflösung zu warten.
Das heutige Kasachstan brüstet sich gern und offen mit seiner mediatorischen, multivektorialen Position, man könnte manchmal vermuten, es sei die „zentralasiatische Schweiz“. Die nach außen repräsentierte innere Ordnung. Heiner Müllers Stücke behandelten immer Konflikte – innere, äußere, systematische – auf jeden Fall gesellschaftliche Konflikte. Nicht umsonst wurden viele der von ihm geschriebenen Stücke zum Teil erst Jahrzehnte später in der DDR publiziert oder aufgeführt – meist nachdem sie bereits in der BRD Premiere feierten.

Szenische Visionen hängen nicht nur vom dramatischen Stoff ab, sie betreffen stets Ort und Zeit. So sah das auch Müller, der jegliche Interpretation und Repräsentation seiner Texte höchst großzügig duldete. Auch wenn er dem Stück jegliches politisches Interesse abspricht – die historisch-soziologische Herangehensweise der Textinterpretation seitens Rustem Begenows beschäftigt sich mit der historischen Russifizierung in Kasachstan und der nun fortschreitenden „Neokasachifizierung“. Ein höchst aktuelles und diskutiertes gesellschaftliches Thema. Auch Müller beschäftigten hier Aspekte und Mythen um Kolonisierung und den Übergang vom Mythos zur Geschichtsschreibung.

Niemand erwartet einhelliges Verständnis

Ob alles von ihm Ersinnte auch von dem Besucher der Vorstellung so verstanden wird oder ihm gar gefällt, interessiert den jungen Regisseur weniger, und das ähnelt auch sehr Müllers Sicht der Dinge. Auch hier sah der Dramatiker, dessen künstlerisches Schaffen mit Ausnahmeerlaubnis in einer Art Niemandsland zwischen DDR und BRD erfolgte, alles in Kontext gesetzt. Die Form der Interpretation, ein Verstehen hängt genauso wie die Form der Inszenierung von der gesellschaftlichen Prädisposition und der kulturhistorischen Verortung eines Jeden ab.

Wie von Begenow zu Beginn angeleitet, nahm die Musikalität – von der mechanischen Bühne über die geräuschvollen Kamerafahrten und das sich immer stärker entwickelnde Musikensemble bis hin zur verzerrten Soundcollage aus Text, Klang und Maschine – tatsächlich eine besondere und wachsende Stellung der Inszenierung ein. Das hätte der aufmerksame Zuschauer aber auch ganz ohne Einleitung herausgefunden. Je melodiöser das Ensemble einstimmte, umso unkenntlicher verflüchtigte sich der Text. Bis er nur noch zu Tonsequenzen und –molekülen zersetzt wurde und in eine Art Morsezeichen überging.

Außerdem fand er vielleicht auch heraus, dass die auf der Bühne technisiert dargestellte Welt durchbrochen wird vom Organischen, welches fließende Gewänder und weiche Formen der Requisiten repräsentieren.

Vielleicht bemerkte er aber auch, dass bei aller Konzentration auf das Funktionale der mechanischen Bühne und all ihrer beteiligten Attribute, die Reibung, das Scheitern und die Dysfunktionalität einer Utopie/Dystopie die eigentlich bedeutenden Elemente sind.

Obwohl die Barbarin Medea im Spektakel nicht physisch repräsentiert ist, ist ihr Wesen allgegenwärtig, seltsamerweise gefühlt altruistisch und unerwartet sanft – als stärkste Entität. Es ist der Monolog der Medea, wenn auch fragmentarisch. Nachdem der Text zu Morsetönen zu zerfallen droht, taucht eine überdimensionale Papierrolle auf, die zunächst auf ihr gedruckte Buchtaben, dann Wort-, Zeilen– und schließlich Textfragmente ausspuckt, bis man an den Anfang bzw. das Ende gebracht wird – die ersten Zeilen Müllers, der Titel und sein Name. Die Schlange beißt sich in den Schwanz.

Und am Ende ist es Heiner Müllers Text, seine Phrasen, wenn auch geschönt, gekürzt und für Kasachstan adaptiert, der als stärkste Instanz über allem thront.

Das erste Stück der so genannten „neuuniversellen Produktionsgemeinschaft ORTA/Kulturzentrum“ ist nochmals im Rahmen des Theaterfestivals „Otkrowenije“ am 3. Februar um 23 Uhr in der 3. Etage des MEGA-Einkaufszentrums (Makatajew-/Sejfullin-Str.) zu sehen.

Julia Boxler

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