Es begann mit „Shag“, einem Projekt des Goethe-Instituts, bei dem neue deutsche Dramatik ins Russische übersetzt und russischsprachigen Theatern für die Aufführung zur Verfügung gestellt wurde. Die kasachische Gruppe „Artischok“ entschied sich für „Das Leben auf Praça Roosevelt“ und beendete mit dessen Premiere das Deutschlandjahr in Kasachstan. Ein Ende mit viel Applaus, aber auch verständnislosem Kopfschütteln. (Bild: Antonie Rietzschel und Wladimir Dmitriev)
Die Praça Roosevelt ist ein Platz mitten in Sao Paulo, mit Büros, Bordellen, Kneipen, einer Bingohalle und einer Änderungsschneiderei. Hier sitzt der Arbeits- und Obdachlose Raimundo, auch Mundo genannt. Mundo hat aufgehört zu sprechen. Er hört nur noch zu, lauscht den Lebensgeschichten der Menschen, die zu ihm kommen. Während des Stücks wird er zum stummen Chronisten der letzten Tage des jungen Dealers Mirador, der, als er aus dem Drogengeschäft aussteigen will, zu Tode gefoltert wird.
Sein Vater, ein Polizist, hat tagelang nach ihm gesucht, nachdem er ihn auf der Praça Roosevelt beim Dealen erwischte. Nach erfolgloser Suche isst er alle Orangen auf, die sich im Haus befinden, bis er aufgrund der Übersäuerung ins Koma fällt. Sein Sohn liebte Orangen. „Wolltest du wissen, wie das ist? Ein langsamer Tod? Wolltest du sterben, wie er gestorben ist?“, fragt die Frau des Polizisten in die Stille hinein. Die Orange wird zum Symbol, das während des Stücks immer wieder auftaucht.
Auch der Transvestit Aurora (links) erzählt Mundo seine Geschichte. Als Junge vergewaltigt, zieht er sich mit zwölf Jahren die Kleider seiner Schwester an. Seine Mutter spricht nicht mehr mit ihm. Mit 15 verlässt er die Stadt mit einer Gruppe Tänzern. Als Aurora nachts über die Praça Roosevelt schlendert, findet sie den verstümmelten und blutverschmierten Leichnam des jungen Mirador. Der Saft von Orangen fließt anstatt von Blut durch Auroras Finger. Sie stimmt mit ein in den Chor der stummen Zeugen: „Und er lebt noch. Der junge Mirador. Ohne Zunge. Ohne Augen. Ohne Glied. Ohne Hände. Ohne Füße. Er lebt. Er hat ein starkes Herz. Er lebt, bis die Sonne aufgeht.“
Gewalt, Drogen, Korruption – all das hatte die deutsche Dramatikerin Dea Lohr direkt vor der Haustür, als sie auf der Praça Roosevelt in Sao Paulo wohnte. Die Geschichten, die sie hörte, und die Menschen, die sie sah, verarbeitete sie in diesem Stück. Die extra für das Stück zusammengwürfelte Truppe, bestehend aus Teilnehmern zweier Schauspielklassen, Schauspielern des Artischoks und externen Schauspielern, entschied sich für eine schrille und bunte Umsetzung: Die Figuren sind bis ins Groteske überzeichnet, selbst der Tod wird zur Lachnummer. „Wir wollten mit dem Stück das progressive Deutschland zeigen“, sagt Andre Augustin, Mitarbeiter des Goethe-Instituts. Das Publikum reagierte unterschiedlich: Manche verließen den Saal bereits nach einigen Minuten wieder, Köpfe wurden geschüttelt, aber am Ende gab es doch viel Applaus für die schauspielerische Leistung der Darsteller.