Wie lebt es sich im letzten deutschen Dorf Zentralasiens?
Das Dorf Rot-Front, knapp anderthalb Stunden Autofahrt östlich der kirgisischen Hauptstadt Bischkek gelegen, wird häufig als letztes deutsches Dorf in Zentralasien bezeichnet. Es trug bis 1927 den Namen Bergtal und hatte bis zum Ende der Sowjetunion mit 900 Personen einen verhältnismäßig großen Bevölkerungsanteil sogenannter Russlanddeutscher.
Oft, wenn über Rot-Front berichtet wird, geht es um die Vergangenheit des Dorfes, doch auch heute leben noch einige deutschsprachige Familien in dem geschichtsträchtigen Ort. Einen, der beide Seiten des Dorfes kennt, die Vergangenheit und die Gegenwart, habe ich dort besucht.
Das deutsche Museum
Wilhelm Lategahn kam 2009 aus Nordrhein-Westfalen als Lehrer nach Rot-Front und ist von dem deutschen Erbe des Dorfes kaum noch zu trennen, denn sein Museum ist eine der prominentesten Anlaufstellen im Ort. Dort hütet er, inzwischen pensioniert, die Erinnerungen und Erinnerungsstücke der deutschen Familien des Ortes.
An einem hellen, warmen Montagmorgen besuche ich dieses Museum in der Straße unter den Bergen. Im Sonnenschein strahlen die weiß-blauen Fassaden und halbhohen Holzzäune, die für diesen Teil des Dorfes typisch sind, und heben sich dadurch noch mehr von dem Großteil der sonst üblichen Dorfarchitektur ab. Ein Zettel an dem Tor, das auf Wilhelms Privatgrundstück führt, informiert in drei Sprachen über das Museum. Auf Spendenbasis kann man sich dort ansehen und anhören, was die Deutschen nach Kirgistan gebracht hat, wenn Wilhelm gerade zu Hause ist und Zeit hat.
Zunächst bekomme ich – mit Blick auf eine Landkarte, die Europa und Asien abdeckt – einen historischen Überblick über die Migrationsbewegungen vieler Deutscher ab dem 18. Jahrhundert, von Katharina der Großen bis zur Aussiedlung nach dem Ende der Sowjetunion. Mit einer beeindruckenden Wortgewandtheit und wachem, begeistertem Blick erklärt mir Wilhelm die geopolitischen und religiösen Zusammenhänge, die das Leben so vieler Menschen maßgeblich beeinflusst haben und die zahlreiche Familien noch heute prägen.
Derzeit leben in Rot-Front noch ungefähr 100 deutschsprachige Menschen. Mit steigender Tendenz, denn manch einer, erzählt Wilhelm, komme aus Deutschland auch wieder zurück. Wie lebt es sich also in diesem letzten deutschen Dorf inzwischen? Was macht das Leben der Menschen, insbesondere der verbleibenden Deutschen, hier aus?
Tauwetter
Es ist Frühjahr und dem eisfreien Tal ist kaum noch anzumerken, dass es vor wenigen Wochen noch bei zweistelligen Minusgraden unter einer Decke aus Schnee begraben war. Lediglich den Bergen, die sich hinter den Feldern mit weißen Gipfeln in den Himmel strecken, sieht man es an – und den Menschen. Die enorme Kälte von bis zu minus 30 Grad Celsius findet im langen Winter einen Weg, um bis in die Wohnungen, bis in die Körper der Menschen vorzudringen.
Wilhelm lebt nun in einem Haus, was zuvor einer deutschen Familie gehört hatte. Wie dieses Haus gebaut ist, zeigt, wie sich die Menschen an das Leben vor Ort mit seinen Gegebenheiten angepasst haben. Neben der eigenen Banja, die Abhilfe gegen die Winterkälte schafft, befindet sich eine Lagerkammer mit Steinkohle zum Heizen. Von der aufgeräumten Werkzeugkammer aus geht es dann noch ein Stockwerk tiefer: Die Tür im Boden führt in die Vorratskammer, wo schon im Herbst eingelagert wird, denn im Winter kann hier für eine Weile auch mal alles stillstehen. „Die Temperatur fällt in dieser Kammer nie unter den Gefrierpunkt, auch bei enormer Kälte nicht“, sagt Wilhelm.
Draußen rollt ein Tiertransport nach dem anderen über die Straßen, meist beladen mit Pferden, Kühen oder Eseln. Fast alle Menschen hier, darunter auch die deutschen Familien, halten Tiere und die kommen nun von den Winterweiden zurück, wohin sie in die Obhut von Hirten geschickt wurden. Die Tierhaltung sei dabei sowohl Einnahmequelle als auch Mittel der Selbstversorgung, so Wilhelm.
Lang wird es nicht dauern, bis das Leben hier nach diesen milden Frühlingsmonaten wieder wesentlich erschwert wird, denn der Sommer ist im Vergleich zum Winter in seiner Ausprägung nicht minder extrem. Aber auch dafür sind die Häuser hier vorbereitet, beispielsweise mit einer Sommerküche. „Stell dir vor, du hast zehn Kinder“, sagt Wilhelm. „Bei einer Außentemperatur im Sommer von 40 Grad Celcius oder mehr willst du die Hitze vom Kochen für diese Familie nicht im Haupthaus haben.“
Von der Sommerküche aus sind es nur wenige Meter in den gepflegten Garten des Hauses, von dem man entlang einer Pappelallee in die Berge blickt. Der Garten war früher zentral für eine gesunde Ernährung und ein möglichst autarkes Leben. Außerdem steht in Wilhelms Garten inzwischen eine neue Außendusche mit Wassertank, denn die Wasserversorgung ist im Sommer mitunter so schlecht, dass es manchmal über Tage kein Wasser gibt. Autark leben zu können, spielt hier noch immer eine große Rolle.
Religion und Kultur
Die Religion hat im Alltag der deutschen Familien in Rot-Front, von denen die meisten den Mennoniten angehören, noch immer eine große Bedeutung. In dem Gebetshaus des Dorfes kommen sie regelmäßig zusammen.
Die Religion präge natürlich auch das Zusammenleben, erzählt Wilhelm. So ist die Musik auch über den Gottesdienst hinaus ein wichtiger Bestandteil des Lebens, ob bei Ausflügen oder innerhalb der Familie. Praktisch jeder spiele mindestens ein Instrument. Außerdem, so Wilhelm, stehe die Verantwortung für die Familie im täglichen Leben an erster Stelle. Das führt auch dazu, dass es einen regen Austausch zwischen den Generationen gibt.
Die Mennoniten, die in Berichten aus vergangenen Jahrzehnten mitunter als rückständig dargestellt wurden, sind allerdings keinesfalls technologieverdrossen oder fortschrittskritisch. Aber ihre Traditionen pflegen sie und behalten sie bei. MG/DAZ
In regelmäßigen Abständen hat die DAZ über oder in Rot-Front berichtet, wie 2005, 2017, 2019 oder 2020. Nun nimmt eine Ära ihr Ende, denn nach über 15 Jahren in Rot-Front ist nun auch Wilhelm zurück nach Deutschland gezogen. Das Museum steht neugierigen Besucher:innen aber weiterhin offen, damit dieser Teil der Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.
DAZ