Die Russen sind ein Mysterium. Sie sind eines der letzten Geheimnisse der Menschheit, praktisch das achte Weltwunder. Auf der Liste kopfzerbrechender Phänomene rangieren die Russen zwischen Schwarzen Löchern und dem Rubik-Würfel.

Unsere Welt kennt viele widersprüchliche Kreaturen: Ringärzte, Militärpfarrer, Charity-Ladies. Doch nirgendwo begegnen sich zwei Gegensätze so unvermittelt, wie in den Charakteren von Russen. Vernunft und Wahnsinn heißen die russischen Gezeiten und sie haben die Russen seit Jahrhunderten im Griff.

Diesen Witz kennt jeder, der sich schon mal mit russischer Kultur- und Ideengeschichte befasst hat. Der ewige Grundgedanke der russischen Kultur habe sich in zwei berühmten Buchtiteln manifestiert: „Was tun?“ und „Wer ist schuld?“. Nicht, dass die Russen besonders pragmatisch an ihre Probleme herangehen würden oder etwa fanatische Anhänger der Gerechtigkeit wären. Nein, gerade dass diese beiden Fragen niemals ihre Aktualität verlieren, zeigt, dass die Russen bislang weder eine Lösung, noch den Schuldigen gefunden haben.
Dabei hat es den Russen niemals an großen Aufklärern gefehlt. Immer war jemand da, der sie wachrüttelte, der sie begeisterte, der Visionen entwarf. Praktisch jede Epoche, jede Generation hatte ihren Volkstribun. Und was haben sie nicht alles zusammengetragen! Was haben sie nicht an Büchern geschrieben, was haben sie nicht über die Russische Frage diskutiert, was haben sie nicht der Russischen Zukunft zugeschrieben – der Karren ist immer noch im Dreck, und keiner weiß, wer schuld ist und was zu tun sei.

Dafür hat sich aber im russischen Kollektivbewusstsein im Laufe der Jahre die Meinung festgesetzt, etwas ganz Besonderes zu sein. Nicht etwa ein auserwähltes Volk, das wäre ja nur ein allzu billiger Abklatsch. Nein, die Russen verspüren ein inneres Stigma der eigenen, nicht verliehenen Einzigartigkeit, eine unikale Wahrnehmung der Welt, ein kosmisches „Wir“. Generationen von Russen lebten und leben im sicheren Bewusstsein, der übrigen Welt etwas sehr Wichtiges sagen zu können. Und wenn die übrige Welt es bislang nicht vernommen hat, dann nur, weil sie mit Politik, Wirtschaft und anderen Bagatellen beschäftigt war und keine gebührende Aufmerksamkeit für die ultimative russische Wahrheit aufbrachte. Ungehört und unverstanden, fühlen sich die Russen erst recht als Märtyrer. Sie allein tragen auf ihren Schultern die Weltlast und nur in ihren Seelen brennt eine so unstillbare Sehnsucht, dass man heulen könnte. So schutzlos sind sie, so schutzlos.

Ob sie von Anfang an etwas Besonderes waren, ist heute eigentlich nicht mehr von Bedeutung. Denn paradoxerweise haben die Russen durch ihre beharrliche Selbstsuggestion tatsächlich eine Art von Einzigartigkeit erreicht. Doch es ist keine vermittelbare Wahrheit, es ist, welch` Überraschung, ein emotionaler Zustand, eine zur Gesinnung erhobene Laune. Russe als psychologisches Profil. Russe als Lebenseinstellung. Russe als Schicksal!

Wenn ich das kollektive Psychogramm der Russen mit zwei Worten beschreiben müsste, dann würde ich statt zwei Fragen zwei Forderungen formulieren: Der typische Russe will alles und auf einmal. Er will keinen Spatz in der Hand. Er will gleich eine Wachtel, gebraten und in seinem Mund. Teilerfolge sind Niederlagen. Wenn schon, dann richtig! Und vor allem sofort. Mit Garantien und Versprechungen kann er nichts anfangen. Dass es ein Gestern gibt – unwichtig, dass es ein Morgen gibt – nur eine Theorie. Es gilt, das Heute zu arrangieren. Mit der Zeit kann der Russe nicht umgehen. Immer wieder fällt er auf Wucherkredite und All-you-can-eat-Büfetts rein. Das hat nichts mit Geiz zu tun. Der Russe ist einfach nur ein Kind, das sich nichts einteilen kann. Erst recht keine Gefühle. Während „normale“ Menschen die bedingungslose Liebe für einen Mythos halten, besitzt der Russe in seinem Repertoire darüber hinaus bedingungslosen Hass, Mitleid, Neid, Ausgelassenheit, Überheblichkeit, Trauer und Einiges mehr. Sie sind Kinder. Wenn man die Russen an ihre Leichen im Keller erinnert, dann genieren sie sich, als ob sie ein Gedicht aufsagen müssen, und wenn man ihre Schriftsteller und Weltrekorde erwähnt, dann machen sie vor Stolz Luftsprünge. Ein gemäßigtes „Einerseits – andererseits“ kennen und wollen die Russen nicht.

Nur durch das ständige „Aufs-Ganze-Gehen“ glaubt der Russe, am Ende kein Gläubiger des Lebens zu bleiben. Darüber, dass das Leben den Russen etwas schuldet, kann es keine zwei Meinungen geben. Zudem ist das gefühlte russische Leben viel kürzer, als es ihre ohnehin bescheidene Lebenserwartung vermuten lässt. Es ist quasi wie ein Schlag mit dem Hammer, und dann ist alles vorbei. Wer dann noch nicht ausgelebte Gefühle und Träume hat, ist ein schlechter Russe gewesen. Mögen die anderen ihr Leben wie einen Aufenthalt in der Dekompressionskammer gestalten, für die Russen soll das Leben ein Festival der Emotionen sein.

Ist das kindisch? Immer va banque zu spielen, durch die Menschheitsgeschichte zu stolpern, sich immer wieder am heißen Eisen zu verbrennen, trotzdem die Neugier und die Begeisterung nicht zu verlieren und jedes Mal aufs Neue zu scheitern? Oder ist es kindisch zu glauben, man kann dem Leben nur beikommen, wenn man so abgebrüht erwachsen, wie nur geht, wird, wenn man die eigenen Emotionen in handliche Dosierflaschen abfüllt und die Eruptionen kalendarisch festlegt? Wahrscheinlich ist beides richtig. Oder falsch. Es ist ja auch egal. Wichtig ist doch nur, was aus alledem nun folgt. Was soll man denn nun konkret tun? Und wer, verdammt noch mal, ist an dem Ganzen schuld?

Anton Markschteder

11/07/08

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